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Politikbuch des Monats

HELMUT KONRAD:  Das Private ist politisch. Marianne und Oscar Pollak. Wien: Picus 2021

Am 28. August 1963 verstarb Oscar Pollak an einem Herzinfarkt, zwei Tage später nahm sich seine Gattin Marianne das Leben. Damit fanden zwei symbiotische, wenn auch in „klassischen“ Rollenklischees verhaftete, politisch-publizistische Leben und zwei, die österreichische Sozialdemokratie in der Ersten, vor allem aber in der Zweiten Republik prägende Biografien ihr (tragisches) Ende.

Beide, die ab Mitte der 1920er Jahre Schritt für Schritt Teil der sozialdemokratischen „Arbeiteraristokratie“ wurden, konnten trotz – in diesem speziellen Fall eigentlich wegen – Flucht, Vertreibung und (vor allem das Oscar Pollak prägende) Exil in London nach dem Ende der Nazidiktatur mehr oder weniger nahtlos an den Beginn der Karrieren in den 1920ern anschließen. Was auf den ersten Blick nach Kontiunität aussieht, ist – in der Retrospektive – auf den zweiten als unübersehbarer Bruch zu sehen, weshalb Konrads mehrmals vorgetragenes Verdikt, Oscar Pollak sei „gewissermaßen aus der Zeit gefallen“ durchaus zutrifft.

Die politische Grundkonstellation der Zweiten Republik war im Gegensatz zur Ersten (1918 bis 1933/34) vom grundsätzlichen Konsens der zwei dominierenden politischen Lager, der ÖVP als Nachfolgerin der Christlich-Sozialen, und der SPÖ als Nachfolgerin der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, geprägt. Trotz diesem proporzbasierten Grundkonsens auf Bundes- wie auf Landesebene, dienten Parteizeitungen in Analogie und Kontinuität zur Ersten Republik als Ersatzschlachtfelder im Sinne von – und das betraf nicht nur das SPÖ-Zentralorgan – Gesinnungsvermittlung. „Es ging höchstens in zweiter Linie um die Vermittlung von Neuigkeiten, im Vordergrund stand die politische Aufklärung und Erziehung. Leserinnen und Leser waren einem pädagogischen sozialdemokratischen Konzept ausgesetzt. Insofern verstand Pollak die Arbeiter-Zeitung trotz der aktuellen Berichterstattung (…) kaum als ein Presseprodukt, (…) sondern als gesinnungssichere Informationsquelle mit der Aufgabe, die aktuellen Details im Licht von größeren Zusammenhängen zu sehen. (…) Die Arbeiter-Zeitung hatte für Pollak eine wichtige Funktion in der austromarxistischen Tradition stehenden Bildungs- und Erziehungsarbeit zu spielen. (…) Das war in den ersten Jahren nach 1945 auch die große Stärke des Blattes, die sich aber anderthalb Jahrzehnte später als Hemmschuh für eine neue Positionierung in einer geänderten Presselandschaft erweisen sollte.“

Helmut Konrad ist nicht nur ein hervorragender Kenner der österreichischen (Zeit-)Geschichte im Allgemeinen und ein ebenso ausgewiesener Experte der österreichischen Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert im Besonderen, sondern einer der wenigen österreichischen (Zeit-)Historiker, die die Integration der Medien-(Geschichte) in die (Zeit-)Geschichte et vice versa mit Gewinn praktiziert. Die vorliegende Publikation ist tatsächlich „mehr als nur die Geschichte zweier Leben.“

Der zentrale Quellekorpus ist der Pollak-Nachlass im Archiv des „Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung“. Dieser liegt dort „sorgsam geordnet und in sieben Kartons mit insgesamt 25 Mappen (…). Diese über zweitausend Einzeldokumente werden ergänzt durch eine Reihe von Fotoalben.“ Darüber hinaus „gibt es einen weiteren Karton mit den persönlichen Dokumenten und den umfangreichen Fotobeständen“. Dieser Quellenfundus ergänzt durch eine Vielzahl anderer Primärquellen erlaubt nicht nur biografische Einblicke in zwei publizistisch-politische Leben, in denen Politik nicht nur „zum gemeinsamen Lebensinhalt“ wurde, sondern „zur Ersatzreligion und zum Auftrag. (…) Das Private war politisch und die Politik bestimmte auch das Privatleben, den Freundeskreis und die Diskussionen.“

Wo Konrad aus Sicht des Rezensenten zu rigoros und apodiktisch, bzw. in Bezug auf die Person Oscar Pollak zu personalisiert, argumentiert ist, dass dieser – zugespitzt formuliert – allein am Untergang der „Arbeiter-Zeitung“ als Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie und somit für einen essenziellen Teil sozialistischer Identität – verantwortlich gewesen sei. Was Konrad diesbezüglich treffend ausführt, verdient einer vertiefenden Betrachtung und wäre ein substanzieller Beitrag zum Scheitern von Parteizeitungen (wohl nicht nur in Österreich). Anzuführen wären das Selbstverständnis der Parteieliten, was denn die Parteipresse zu leisten habe, ein zunehmender Anachronismus der Parteipresse als „Gesinnungspresse“ ab den 1970ern, ökonomische und publizistische Fehlentscheidungen sowie Innovations- und Investitionsfeindlichkeit der Besitzer. Helmut Konrad hat eine analytisch tiefschürfende, gleichzeitig durchaus berührende Doppelbiografie verfasst. Bei aller Sym- und Empathie wahrt er immer die souveräne wissenschaftliche Distanz seinen Protagonisten gegenüber.

Heinz P. Wassermann

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Hier noch Tipps zum Ein-, Weiter-, Wieder- und Auslesen:

Bacik, Krista: Probleme der Parteipresse zu Beginn der 60er-Jahre. Die „Arbeiterzeitung“. Wien 1994 (Diplomarbeit).

Jölli, Andreas: Die Arbeiterzeitung zwischen politischer Funktion und wirtschaftlichen Zwängen im Zeitraum zwischen 1970 und 1989. Wien 1994 (Diplomarbeit).

Kittner, Daniela: Die „AZ“ war ihrer Zeit zu weit voraus. Der Tod der „AZ“ als Kulturverlust der Linken. In: Medien&Zeit, 4/1991. S. 32-33.

König, Ewald [u. a.]: Geschichte sozialdemokratischer Medienpolitik in Österreich 1848 – 1994. Wien 1995.

Muzik, Peter: Die Zeitungsmacher. Österreichs Presse. Macht, Meinungen und Milliarden. Wien 1984.

Pelinka, Peter: So starb eine Zeitung. Das Ende der AZ. In: ZEITUNGS-LOS. Essays zu Pressepolitik und Pressekonzentration in Österreich. Hg. v. Peter Pelinka [u. a.]. Salzburg 1992. S. 121-142.

Pelinka, Peter und Scheuch, Manfred: 100 Jahre AZ. Wien und Zürich 1989.

Pensold, Wolfgang: Vom Staatskanzler zum Medienkanzler. Drei Dogmen im medienpolitischen Diskurs der SPÖ nach 1945. In: Medien&Zeit, 3/1999. S. 4-25.

Venus, Theodor: „Wir sind wieder da“. Eine Dokumentation zur sozialistischen Pressepolitik in Österreich zu Beginn der zweiten Republik. In: Medien&Zeit, 4/1991. S. 17-23.

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