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Bahnroman des Monats

Markus Köhle: „Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts“. Roman, Sonderzahl: Wien 2023

Markus Köhles jüngster Roman mit dem wunderbaren Titel „Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts“ ist eine ideale Lektüre nicht nur für Bahnfahrer (mwd), sondern auch für Freunde von Sprachspielereien und für Leute, die einen liebevoll-kritischen Blick auf Österreich hegen. Das gutgelaunte Railroadmovie in Buchform erzählt von den Begegnungen des Autors und Tourismus-Werbetexters Lukas in den Speisewägen der ÖBB, in denen er regelmäßig kreuz und quer durch Österreich gondelt (mit Ausnahme des Burgenlandes: die müssen ohne Speisewagenverbindung auskommen). „Für ihn ist der Speisewagen ein rollender Co-Working-Space“, heißt es gleich zu Beginn.

Der Grund der Fahrten: Für die Österreich-Werbung erstellt Lukas das Ortsnamen-Lexikon „Die Verwortung Österreichs“, dessen Einträge sich herrlich verquer lesen, z. B.:

LEOBEN

  • Der „Leoben“ ist die Schaumkrone der vom Wind abgekehrten Seite eines frisch gezapften Krügerls Bier.
  • Das rückbezügliche Verb „leoben“ meint, sich an Bier und Kürbiskernöl gütlich tun. Zum Beispiel: Erdäpfelsalat mit Kürbiskernöl und Bier – so lässt’s sich leoben!
  • „Leoben“ ist die kleinste Universitätsstadt Österreichs und die einzige Stadt der Welt, in der das Fach „Tunnelblick“ studiert werden kann. Der Masterstudiengang „Tunnelblick“ ist eine Studien-Mischung aus Lobbying- und Tunnelbautechniken. Der Tunnelblick-Master ist der perfekte Grundstein für eine Karriere in Politik und Bauwirtschaft. Für eine Karriere in der Politik reicht sogar ein abgebrochenes Tunnelblick-Studium.

Im Speisewagen trifft Lukas auf den Tourismusmanager Kurt, mit dem er das „Im Prinzip ja, aber“-Prinzip des Radio-Eriwan-Witzes kultiviert, weiters auf die patente Zugrestaurant-Chefin Tunja und deren Ex Mo (s*he) sowie auf ihren neuen Verehrer Ivo. Gleichzeitig bekommt er laufend Nachrichten von seiner Kindergartenfreundin Corina: Sie ist Gemeindesekretärin von Nassereith, dem Tiroler Heimatort von Lukas (und Markus Köhle), und soll den Dichter dazu überreden, als Dorfschreiber zu wirken und als Literaturaushängeschild des Ortes zu fungieren. Das bewegt Lukas dazu, sich an die Kindheit und Jugend in der Tiroler Provinz zu erinnern – woraus sich die stärksten Abschnitte des Romans ergeben, z. B. die Schilderung einer feuchtfröhlichen Pilgerfahrt der Dorfjugendlichen zum legendären Guns’n’Roses- und U2-Konzert 1992 nach Wien: „Wir grüßten alle in der U-Bahn.“

Köhle mixt in seinem vierten Roman (den der Klappentext fälschlicherweise als „Debütroman“ bezeichnet) Kindheits- und Jugenderinnerungen mit Beziehungsgeschichten und Österreichbetrachtungen und versteht es, mit Niveau zu unterhalten. Noch besser als Lesen ist nur das Vorgelesen-Bekommen: Wer Gelegenheit hat, das Poetry-Slam-Urgestein Köhle (aka Papa Slam) aus seinem Buch vortragen zu hören, sollte sich das nicht entgehen lassen. Köhle ist da eine Klasse für sich.

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