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Eske Hicken: „Homeless“, Edition W 2023

Sogar Mörder lernen Frauen kennen, weil es diese Frauen gibt, die auf Mörder stehen. Aber es gibt keine Frauen, die sich von Obdachlosen angezogen fühlen. Wir sind auch auf der Attraktivitätsskala der Bodensatz“, 

schreibt Schriftstellerin, Radio- und Fernsehmoderatorin Eske Hicken in ihrem erfrischenden und abwechslungsreichen Portland-Antimanifest „Homeless“ und lässt durchblicken, wohin diese Lesereise führen wird.

Portland war und ist bekannt als hipper Treffpunkt, tolerante Stadt und „Mekka“ der US-amerikanischen Alternativszene. Ein Ort, der bewusstes Leben bevorzugt und wo die Bewohner:innen sich lieber vegan und biologisch ernähren, als eine Fastfood-Kette zu unterstützen. Doch zwischen Jutebeutel, „Fixie“-Kultur und „Weed“-Geruch ist in den letzten Jahren ein konfliktbehaftetes Spannungsfeld entstanden.

2017 nahm sich Eske Hicken in Deutschland eine berufliche Auszeit und arbeitete ein Jahr in Portland (US-Bundesstaat Oregon) für eine Organisation, die für die Rechte von Obdachlosen kämpft. Sie schlief dort selbst einige Male auf der Straße und half auch in einer Essensausgabestelle für Obdachlose. Ihre Erlebnisse und Eindrücke über eine Stadt und zwei Welten verarbeitet sie nun in diesem Roman.

Die meisten von uns kennen Portland als weltoffene und tolerante Stadt und doch ist sie immer noch eine der weißesten Städte in der USA. Oregon wurde als rein weißer Bundesstaat geründet und Afro-Amerikaner durften dort lange Zeit weder wohnen, arbeiten, noch etwas besitzen.

„Homeless“ ist folglich eine eindringliche Dokumentation einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Der Roman wird aus vier Perspektiven erzählt und stellt gleichzeitig eine alarmierende Momentaufnahme der amerikanischen Gesellschaft dar. Auf der einen Seite lebt das Journalistenpärchen Helen und Richard ein gut bürgerliches Leben im hippen Portland, während Katie und John auf der anderen Seite als Obdachlose ums Überleben auf der Straße kämpfen müssen. Vier unterschiedliche Charaktere, die in diesem Buch durch die Stadt miteinander verbunden werden. Während sich nämlich Portland als weltoffene Stadt abfeiert, steigen die Mieten und sozialschwache Personen – speziell die afro-amerikanische Bevölkerung – werden immer öfter obdachlos. Vor dem Hintergrund des sich wandelnden Portlands, welches inzwischen von den Wohnungslosen großflächig mit Zelten besiedelt wird, entsteht aufgrund eines sehr trägen Polizeiapparates eine rechte Bürger:innen-Bewegung gegen die Nichtsesshaften in der Stadt.

Dem nicht genug werden die Zelte der Obdachlosen von einer unbekannten Person angezündet, manchmal auch mit Schlafenden darin. Selbst diese Mordfälle lösen nicht das Spannungsfeld zwischen Links und Rechts auf und untermauern sogar die hetzerischen Forderungen der Bürger:innen-Bewegung nach eigenen Reservaten für die Wohnungslosen. Trump und Kickl lassen grüßen.

„Homeless“ ist ein sehr spannender Roman, weil er einerseits die Entwicklung der vier Hauptpersonen gut strukturiert aufbaut, und andererseits das schrecklich-schöne bzw. schön-schreckliche Portland beschreibt. Mehr noch: Es ist ein Buch über die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in den USA. Eske Hickens Werk beginnt mit der verstörenden Erfahrung, Hab und Gut zu verlieren, während die Leserschaft zwischen Hoffnung und Angst taumelt und folglich auch erfahren wird, warum sich Haltungen und Einstellungen in einer Gesellschaft verändern können.

Das 330-seitige Werk bildet eine ehrliche, aufschlussreiche und zugleich nachdenkliche Lektüre. „Homeless“ ist eine intensive Erzählung, die man nicht so schnell vergisst und den Wunsch nach mehr Menschlichkeit anregt.

Die Autorin hat damit einen vor Details strotzenden Mikrokosmos konstruiert, überzeugt durch vielschichtige Handlungsstränge und schafft es trotzdem, ihre Enttäuschung bezüglich der Entwicklung in unserer Gesellschaft glaubwürdig zu formulieren. Lesetipp!

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Foto und Review: aL Oktober 2023

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