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Tonträger des Monats Juni

Es war enorm viel los in den vergangenen Tagen in unseren diversen Postfächern. Anscheinend wollen ca. 80% aller heimischen Bands noch vor dem Sommer ein Album publizieren. Die Liste an Tonträgern ist diesmal daher recht lang geworden, auch wenn wir trotzdem nur einen Bruchteil besprechen können. 

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Holli: „Der erste gute Tag“, Problembär Records VÖ 26. 5. 2023

Tobias Paal wurde beim Zivildienst zum „Holli“, weil er angeblich aussieht wie ein Holländer. Er hat ein eher distanziertes Verhältnis zu Mirjam Weichselbraun. Und er hat mit Michael Furtlehner (Schlagzeug), Thorsten Kaiser (Bass), Dorian Windegger (Keys) und diversen Gästen seine erste LP am Markt. Der Pressetext spricht von „eher auf der melancholischen Seite der Gemütsskala angesiedelt“, aber auch von „tanzbar-lebhafter Indie Rock und melodisch-folkigen Arrangements“. Alles richtig. Und dann sollte man erwähnen, dass der Mann echte Indie-Kracher schreiben kann. Das beginnt schon mit der zweiten Nummer, die wir eh von FM4 kennen (oder irren wir uns da?). Wir lieben auch die Hymne an „Hannah Mausinger“, wir mögen Songtexte wie „Regen Linz Regen Wien“.  Der Holli ist ein charmanter, leicht larmoyanter, amüsanter Songwriter. Und weil wir Überraschungen mögen und uns immer über Newcomer:innen freuen, sagen wir es, wie es ist: Das hier ist eine der besten Platten bislang im Jahr 2023. Und wenn du bei diesen 15 Songs mit klatschen willst: Lass das Lenkrad bitte nicht los.

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Clarence Wolof & The Passengers: „Windischer Ozean“, CD/LP/digital, Aelan Rikod, VÖ Juni 2023

Wer sich ein bisschen genauer mit der Musik in Süd- und Ostösterreich und darüber hinaus beschäftigt, wird staunen: So viele große Namen, so gelassen versammelt. Primus Sitter, Richard Klammer, Herwig Zamernik, Stefan Gfrerrer, Oliver Mally, dazu Sängerinnen wie Irina Karamarkovic und Desirée Mostetschnig – und das war jetzt nur ein Auszug. Wolfgang Temmel aka Clarence Wolof hat diese spannende Truppe zusammengestellt, um musikalisch in See zu stechen.

Das Maritime hat der steirische Künstler spätestens mit den „Island Sessions“ (2020) für sich entdeckt. Der „Windische Ozean“ ist – das sollte man wissen – keine unruhige hohe See, sondern ein tiefes Gewässer aus dem Alpen-Adria-Raum. Die neun Songs, gerne um die 5 Minuten lang, drehen sich im Winde. Beginnen zum Beispiel mit Western-Sound und enden im Sturm der Trompeten. Es ist nicht, wie das Vorgängeralbum, Weltmusik aus der erträumten Ferne. Es ist nahe, intim, berührend. Und es ähnelt einer Zeitreise mit Stationen im Jazz, im Blues, im Folk.  Viele einzelne Aufnahmen, viele Recording Sessions, viel Aufwand, den man erfreulicherweise nicht hört. Weil am Ende will dieser „Windische Ozean“ keine hohen Wellen werfen. Und wird es doch auf seine Art.

Die Präsentation in Graz steigt passenderweise im Heimatsaal. Am 13. 6. ab 20 Uhr. In Klagenfurt wird die Platte am 5. 7. ab 20 Uhr in der Villa for Forest vom Verein Innenhofkultur vorgestellt.

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Pippa: „Blick“, digital/Vinyl (limited edition mit Postkarten) VÖ 26. 5. 

Dass der Haubentaucher ein ziemlich großer Pippa-Fan ist, kann man hier nachlesen und hier nachhören. Das dritte Album wurde Ende Mai im Radiokulturhaus präsentiert und es ist verträumt wie zuvor, aber poppiger denn je. Mit verantwortlich dafür ist Mario Fartacek (Mynth). Die Pippa-Stimme kommt super wie immer. Und die Texte sind schlau und machen nachdenklich. Ob es um Essstörungen geht oder um die Zukunft einer jungen Generation, um den Konflikt eines Paars. Wer Pippa bisher noch nicht gehört hat, sollte spätestens jetzt einsteigen. Und dann hoffen wir mal, dass es heuer noch viele Live-Gelegenheiten für „Blick“ geben wird. #graz #vorfreude

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Laundromat Chicks: „Lightning Trails“, Siluh Records VÖ 16.6.2023

Fahr mal runter. Sind eh alle so aufgeregt. Geh deinen eigenen Weg. Hier ist die Gitarre. Los geht’s. So oder so ähnlich könnte sich das Laundromat-Bandleader Tobias Hammermüller gedacht haben. Das zweite Album der Band ist gechillt – und doch schräg. Der Sound pendelt sich irgendwo zwischen Konzerthalle und Sardinen-Dose ein. Indie trifft Folk. Für jeden Ton warten noch zwei Zwischentöne. Eine coole Platte, die nicht auf die (Indie-)Charts schielt, sondern für Menschen gedacht ist, die das Besondere suchen. Fans der Tiger Family etwa könnten damit ihre Freude haben.

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Tiger Family: „Live at Guest Room“, Tape, Pumpkin Records, VÖ  26. Mai 2023

Haben wir vorhin bei Clarence Wolof bewundernd von einer Songlänge von gut 5 Minuten geredet, rocken Ratrock Tot Sint Jans und seine Tiger Family auch das Doppelte und mehr. Im Grazer Guest Room wurde im Juni 2022 eine Session aufgenommen, die wir wahrlich gern besucht hätten. Aber man kann nicht alles haben. So haben zum Beispiel auch nicht mehr sooo viele Leute einen Kassettenrekorder. Aber hey: es gibt auch einen Download-Code. Und auf der Website von Pumpkin Records finden sich gleich drei Videos von diesem Abend. Anschauen, anhören und genießen. Und wenn die Tiger Family in eurer Nähe ist, dann kauft ihnen das Tape ab. Und dann checkt euch ein Abspielgerät bei der Oma. Ihr werdet es nicht bereuen. Denn auch diesmal erwartet euch verschlumpfter, staubiger Schrummel-Ami-Rock mit einer großartigen Nasenbärenstimme. Wenn nur alle Familien so zauberhafte Geschöpfe wären…

Weil ihr sicher noch viel zu tun habt, hier ein vergleichsweise sehr kurzer Song in Ton und Bild:

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Kommando Elefant: „sieben“, Las Vegas Records, VÖ 16. 6. 2023

„Über sieben Brücken musst du gehen…“ so beginnt das siebte Album des elefantösen Kommandos aus Wien. Es ist unschuldig und lieb, aber auch nicht frei von zarter Ironie. Was sonst war zu erwarten? Alf Peherstorfer (Vocals, Guit, Synths), Thorsten Mahr (Drums) und Günther Pauls (Bass) haben sich für einen Song diesmal auch Schauspielerin und Sängerin Lisa Schrammel an Bord geholt. Wie immer beim Kommando paaren sich Pop und ein schwer zu durchschauendes Lächeln. Auf textlicher Ebene kann das dann bis zu den erwähnten sieben Brücken führen.

Musikalisch listet der Pressetext Einflüsse von Flaming Lips, Caribou, Slowdive, Justus Köhnke, Andreas Dorau oder Paul Kalkbrenner auf. Tatsache ist, dass die Band schönen großen deutschsprachigen Pop machen kann. „Liebe ist ein weites Feld“, klingt banal, wenn man es hinschreibt, aber doch bittersüß, wenn man es singt. Und wenn das noch nichts hilft gegen die emotionale Frühlingsmüdigkeit, steigen wir ins Raumschiff, denn das All ist natürlich ein Sehnsuchtsort für verträumte Musik wie diese. Live, so sagt man, ist das gleich noch mal sehens- und hörenswerter. So am 15. Juni im FLUC bei der Geburtstagsfeier des Labels. Wir gratulieren herzlich!

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Martin Listabarth Trio: „Postcards“ VÖ 2.6. 

Mitreißender Jazz auf dem Haubentaucher? Gibt es selten, aber Martin Listabarth hat mit seiner Musik unser Herz erobert. Für diese unglaublich lässige Platte hat er sich mit Gidi Kalchhauser
(Kontrabass) und Alex Riepl (Schlagzeug) zwei langjährige Weggefährten an die Seite geholt. Die Reise des Trios beginnt an der Gran Via in Madrid, führt nach Istanbul und mit der Transsibirischen bis zu den Polarlichtern. So gesehen ein schönes Komplementär-Werk zur alpin-adriatischen „Wödmuzak“ des Clarence Wolof. Am 13. 6. gibt es das eine in Graz (siehe oben), das andere, nämlich die jazzigen Postkarten hingegen in Wien im Radiokulturhaus. Bilokation sollte man können… Und ein Hinweis noch: Wenn es heuer zumindest ein Jazzalbum sein darf, dann bitte dieses!

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LAIKKA: „Bleach“ Fabrique Records VÖ 2.6.

Die erste Platte aus dem Herbst 2021 hat uns noch nicht umgeworfen. Aber jetzt gilt: Laikka ist so ziemlich das beste, das Österreich in Sachen elektronischer Popmusik derzeit zu bieten hat. Wie einst der sowjetische Weltraum-Hund ist das Album ein bisserl „lost in space“, aber auf eine unglaublich charmant frische Art. Eh klar, die Pandemie hat auch bei diesem Duo ihre Spuren hinterlassen, aber die Platte boxt sich selbst aus der Verzweiflung, der Dystopie. Es ist ein Sound, der dich vielleicht nicht in den ersten Sekunden auf den Dancefloor beamt, aber er wird dein Leben leichter, luftiger, bunter und ein Stück schöner machen. Und spätestens bei Track Nr. 4 wirst du tanzen! Wer es nicht glaubt, geht am 8. Juni in den West Space in Wien. Infos & Tickets. 

Foto: Rea von der Liszt

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Pandoras kleine Schwester: Titanic, CD Mai 2023

Die Band rund um Bernd Hecke ist live ein Erlebnis, so etwa gesehen und erlebt am letztjährigen Rostfest. Auf Tonträger gibt man sowas wie folkigen Austropop zum Besten (falls man den Ausdruck 2023 noch verwenden darf) plus – das wird man ja noch sagen dürfen: Swing und ein bissl Balkan-Feeling. Heißt: hier ist man mit hörbarem Spaß an der Freude unterwegs. Und so spielt die Schwester wie eine steirische Bordkapelle auf der Titanic dem Untergang auf beschwipste Art entgegen. Mag da draußen noch so düstere Stimmung herrschen, wir stoßen an und wagen ein Tänzchen. Anspieltipp: „Da klane Rotzbua“, eine mitreißende Nummer, die man auch gern als physische Single hätte. Aber:

Nix is mit Vinyl. Ziemlich konsequent hat man die frischen Songs auf eine CD gebrannt. Streaming-Plattformen und Youtube befüllt man sehr bewusst höchstens peu á peu. Also: Konzert besuchen und Tonträger kaufen. Die Gelegenheiten sind da – zumindest wenn man in und um Graz wohnhaft ist: Am 16. Juni ab 20.25 Uhr bei einem Benefiz-Gig im Moxx, am 18. Juni, 19 Uhr in der O-Bar am Mariahilfer Platz in Graz und am 30. Juni ab 13.30 Uhr beim Marktfest auf dem Grazer Lendplatz. Hin- und nicht untergehen mit der fröhlichsten Band der Stadt.

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Zum Schluss gibt es noch eins auf die Waschln. Und zwar gleich doppelt. Das tut weh! Schön weh! 

ZxUxA: „Sindnbeg“, Vinyl, digital, Bloodshed666 Records VÖ 20. 5. 2023

Der Bandname steht für „Zumindest unguad aufgfoin“ und der Name ist nicht zufällig gewählt. Es handelt sich um wild gewordenen Hardcore-Punk aus der Billigst-Dosenbier-Rubrik. Hier wird munter gegen Nazis gekämpft, das System niedergebrüllt, der Durst ist ein ewiger Gegner. Und das alles abwechselnd auf Deutsch, Englisch und Wienerisch. So haben wir dann auch den Titel der LP nach einer halben Stunde kapiert. Unser Versprechen: Damit kannst du deine Schwiegereltern für immer aus dem Haus treiben (und sämtliche feinfühligen Haustiere der Kinder gleich dazu). Arg, aber halt auch arg gut. Und wenn Andreas Babler links ist, was ist das dann?

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CYRUSS: „hate dies last“, Vinyl/digital Bloodshed666 Records VÖ 7. 6. 2023

In der Tonart geht es weiter. Die Wiener Stoner/Sludge/Hardcore Truppe, die Mitte der 2000er Jahre lautstark durch die Szene zog, ist wieder da. Machen Sie ein typisches Geräusch: „AAAAAAAAAAGH!!!“

Die Wut, der Groll, sie sind nicht weniger geworden in den Pandemie-Jahren. Und so darf der böse Cyruss wieder raus und macht seit rund 2,5 Jahren wieder Wien unsicher. Dazwischen hieß man „Desolat“ und das war wohl auch programmatisch zu sehen. Die sechs „Hate“-Songs, die Cyruss da in den Nachthimmel wütet, grölt und brüllt, gibt es – wenn man Glück hat – auch auf farbigem Vinyl. Unsere ist rot!

Eine böse Platte mit fünf bisher nie aufgenommenen Songs und einem neuen. 14 Jahre nach dem Ende der Band ist sie auferstanden, um deine Seele zu fressen. Denn der Hass stirbt nach der Hoffnung.

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