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Literaturbuch des Monats

Klaus Kastberger: Alle Neune. Zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur. Sonderzahl: Wien 2023.

In die Vollen
Haubentaucher goes Germanistik. Zumindest kann es nicht schaden, in der Schule einen soliden Literaturunterricht genossen zu haben und Vorlieben für die österreichische Gegenwartsliteratur im Speziellen zu hegen, wenn man sich Klaus Kastbergers Sammelband „Alle Neune. Zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur“ als Lektüre erwählt.

Rechtzeitig vor dem Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse Ende April bringt der Hans Dampf in allen Literaturgassen (Bachmannpreis-Jury, ORF-Bestenliste-Jury, Leiter Literaturhaus Graz etc. etc.) in diesem Buch das feine Besteck der literaturwissenschaftlichen Vivisektion zum Einsatz.
Fachgerecht mit Fußnoten, biografischen Zugängen und profunder Archivarbeit nähert Kastberger sich den Werken von ausgewählten Vertretern der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts – von Anton Wildgans am Anfang („Zu Recht vergessen“, so der Aufsatz-Titel) bis zur Dreifaltigkeit von Thomas Bernhard, Peter Handke und Elfriede Jelinek am Ende des Jahrhunderts.

Was Kastberger dabei aus den Texten kitzelt, lässt das philologische Herz höherschlagen. Beispielhaft dafür kann der Aufsatz über Ödön von Horváth als Exilautor herhalten. Denn wie Kastberger als Mitherausgeber der kritischen Werkausgabe herausarbeitet, war Horváth nicht seit jeher der moralische Säulenheilige, als welcher er im Schulunterricht gerne präsentiert wird. Um seine Stücke weiter an deutschen Bühnen aufführen zu können, suchte Horváth 1934 um Aufnahme in den NS-kontrollierten „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“ an. Allein, den Nazis war der Autor der „Geschichten aus dem Wienerwald“ suspekt, seine Stücke fanden in Deutschland kein Publikum mehr. Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung von Horváths antifaschistischem Roman „Jugend ohne Gott“ zu sehen, der in Deutschland im Frühjahr 1938 bald nach Erscheinen wegen „pazifistischer Tendenzen“ verboten wurde. Ein Urteil, das die Horváth-Rezeption nach dessen Wiederentdeckung in den 1960er-Jahren lange Zeit prägte und das Kastberger nun in ein differenzierteres Licht rückt.

Ein weiteres Lektürehighlight der literarischen Kegelpartie Kastbergers sind die Aufsätze zur Wiener Gruppe (Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner und, quasi ehrenhalber, H. C. Artmann) sowie den ihnen ästhetisch nahestehenden Dichterinnen Elfriede Gerstl (eine Großmeisterin der Miniatur) und Friederike Mayröcker. Letztere hat der Germanist zu Lebzeiten mehrmals daheim besucht. Dementsprechend anschaulich wird es, wenn Kastberger seine Audienzen in der Schreibhöhle der von ihren Texten beinahe überwucherten Wortpriesterin schildert. „Archivkrankheit“ nennt Kastberger Mayröckers messi-anische Unfähigkeit, Bücher, Zettel und Notizen in eine durchschaubare Ordnung zu bringen.

„Nichts lag hier ordentlich auf einem Stapel, die einzelnen Bündel, die ohne Hülle waren, fransten aus, verschoben sich und schienen ineinander verhakt wie geologische Formationen.“ Gleichzeitig bietet dieses organische Zettelensemble dem Literaturwissenschaftler eine Gelegenheit, die Herausforderungen archivarischer Arbeit aufzuzeigen, die für ihn als Germanist zentral ist. „An der Werkstatt der Dichterin kann man sehen, was das literarische Schreiben nicht ist, nämlich eine Tätigkeit, die sich im luftleeren Raum eines reinen und erstmaligen Gedankens oder gar einem leeren Blatt Papier abspielt“, hält Kastberger fest, um wenige Seiten später zum Resümee zu gelangen: „Wie aus den simpel vorhandenen Materialien ausgerechnet dieses eine Werk werden konnte, gehört zu den letzten und eigentlichen Geheimnissen des Schreibens.“

Klaus Kastberger berichtet in seinen Texten fundiert und vor allem gut lesbar von diesen Geheimnissen des literarischen Schreibens. Das ist einer der Gründe dafür, dass ihm im März 2023 der österreichische Staatspreis für Literaturkritik zugesprochen wurde.

Wort und Bild: Werner Schandor

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