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Roman des Monats: Schreckliche Gewalten

 

“Schreckliche Gewalten” von Jakob Nolte. Matthes & Seitz Berlin 2017
„Iselin und Edvard Honik wuchsen in einem Haus auf. Sie verlebten eine Jugend und eine Zeit als Erwachsene. Die Verhältnisse, aus denen sie stammten, waren okay. Eines Nachts, als die Sonne gerade 564 Millionen Tonnen Wasserstoff in 560 Millionen Tonnen Helium fusionierte und ein Teil der dadurch freigesetzten Wärme 8 Minuten und 17 Sekunden später als Licht den Mond erreichte, und dieser Mond, der nicht wirklich ein Planet ist und nicht wirklich ein Stern, sondern ein Mond, voll erleuchtet am Himmel stand, erblickte ihn die Mutter von Iselin und Edvard Honik, war erfasst von seiner Sanftmut, verwandelte sich in ein wölfisches Wesen, biss ihrem Gatten den Nacken durch, zerfleischte Teile seines Oberkörpers und schlief wieder ein“, schreibt Autor Jakob Nolte auf der ersten Seite seines Buches und zeigt, wohin der Höllentrip die Leser führen wird.
Trotzdem halten wir an dieser Stelle gleich einmal fest, dass dieses Buch alles nur kein Horror- oder Fantasy-Roman ist. Ansonsten tobt sich Nolte zwischen Trash, Detailliebe, Ausschweifungen und Nebenschauplätzen aus. Das könnte für die Leserschaft gegebenenfalls wirklich zum Horrorerlebnis werden. So gelingt es J. Nolte, sich inmitten von Nonsens und Fakten in erzählerischer Höchstform zu bewegen und gleichzeitig auch durch absurde Sprachspielereien ein Werk der Zumutung zu erschaffen.
Der Autor wurde 1988 in Barsinghausen am Dreister, westlich von Hannover, geboren und schreibt neben Romanen auch Theaterstücke. Schon seine frühen Arbeiten (Debütroman „ALFF“ 2015) zeigen auf, inwieweit ihn die Ausdrucksform durch übertrieben dargestellte Sprachbilder reizt. Auf diesem schmalen Grat zwischen Detailversessenheit und Sprachverspieltheit balanciert der Schriftsteller auch in diesem Werk. „Schreckliche Gewalten“ zeigt in einigen Passagen viel Mut, große Unterhaltung und Schauer, das Suhlen im eigenen Erbrochenen inklusive. 
Nachdem die Werwolf-Mutter schon nach Seite zwei des Buches flüchtet, stellt sich für die beiden Geschwister Iselin und Edvard die Frage, ob sie selbst auch das Gen der Verwandlung in sich tragen. Deshalb flüchten sie auf unterschiedliche Weise vor ihrem Schicksal um die halbe Welt. Die Schwester wählt den Weg der Terroristenlaufbahn, während ihr Bruderherz erfolglos eine Hippiekarriere einschlägt. Wenn sich dann die „Mädchen im System“ über die „Geschichte des ACE-Drinks“ unterhalten und eine Spinne anstelle des Herzens sitzt, ist der aufmerksame Leser in Noltes Welt angekommen. Der Fokus der Erzählung geht folglich in die Breite: „Schreckliche Gewalten“ kreist auf 340 Seiten brutal, morbid, schrecklich, komisch, seltsam und eigenartig irgendwo zwischen Irrsinn und Banalität, randaliert gleichzeitig wie ein trunkener Rowdy, kollidiert mit dem kunsthandwerklich netten Gegenwartsroman, so dass dem literarischen Zeitgeist ein gewaltiges blaues Auge verpasst wird.
So wird zum Beispiel großartig über Fredo Corleone (im wirklichen Leben John Cazale), Bruder von Michael und Sonny Corleone aus Mario Puzos „Der Pate“, berichtet. Während die Stars Brando, Pacino und Caan als unerträglich bezeichnet werden, ist Fredo aka John Cazale der wahre Held der Geschichte, weil er einen schwächlichen und gebrochenen Charakter ergreifend spielt. Wie der Film in norwegischer Sprache klingt, dass Herr Cazale mit 42 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, und wo das Wort „benedeien“ entstanden ist, sind literarische Ausflüge in den Wahnsinn. Hier fehlt einfach die zugrundeliegende Dringlichkeit und Motivation; dazu gibt es verworrene und überschüssige Verschachtelungen. So sei als zweites kurzes Kapitel ab Seite 300 die Parabel einer Hyänenfamilie erwähnt, die in einem Erdloch verkümmert. Vielleicht ist aber auch gerade diese Erzählform des begabten jungen Autors das Rätsel bzw. das Leitmotiv des Buches.
„Schreckliche Gewalten“ ist ein komisch-trauriger Schauderroman und wirft gleichzeitig eine Nebelgranate in die Autoren-Community einer aufstrebenden Schreiberszene. Jakob Nolte zeigt sich in seinem Werk mutig, genial und doch komplett durchgeknallt. Er macht hier schon verdammt viel richtig, wenn auch nicht alles. Eine Brise Tarantino und ein Schuss Burgess mit ein wenig Shea/Wilson ergeben diesen zynisch-literarischen Gewaltklumpen. Würden wir einen Soundtrack zu dieser Geschichte zusammenstellen, würden sich Grindcore, Eurotrash-Techno und Helge-Schneider-Lieder auf der Tracklist wiederfinden. Oder einfach nur Caspers Stimme in Endlosschleife, wie er immer und immer wieder singt: „Die Wölfe sind los und wollen das Blut sehen!“    
Foto und Kritik: aL 1. Feb. 2018

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