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Pop-Buch des Monats

Testcard: „Rechtspop. Beiträge zur Popgeschichte“. Ventil Verlag, Dezember 2023

 Dass der ‚Volks-Rock´n´Roll’ sich wie ein Discounter-Format, wie ein musikalischer 1-Euro-Shop, anhört, ist ein Problem des Ausgangsmaterials, das sich durch Eighties-Synthies, Kuschelrocksoli, Raue-Schale-Weicher-Kern-Balladen-Akkorde, NDW-Neutönerei und beziehungslose Ziehharmonika-Tupfer in ‚authentisch unauthentische Popmusik’ verwanden soll, was dann eben doch nicht so richtig klappt“, heißt es im Kapitel „Dirndlrock, Traktorführerschein und Bergbauernbuam“ in der abwechslungsreichen 27. Ausgabe von TESTCARD zum Thema „Rechtspop“. Diese vorliegende Edition versucht anhand aussagekräftiger Phänomene aufzuzeigen, wie es zu einer Um- und Entwertung von Popkultur gekommen ist. Der Rechtsruck ist allgegenwärtig und in unserer Gesellschaft endgültig angekommen. Dieses Thema und diese Entwicklungen sind (leider!) aktueller als je zuvor.

Mehr als eine Million Menschen waren in den vergangenen Tagen auf den Straßen von Deutschland (und teilweise Österreich) versammelt, um gegen den Aufstieg der rechtsextremen AFD zu protestieren. Aktueller Anlass waren die durch das Recherchenetzwerk CORRECTIV bekannt gewordenen Gespräche bei einem Geheimtreffen in der Nähe von Potsdam, bei dem über „Remigration“ palavert wurde. Deutschland (und Österreich) steht auf. Klingt bedrohlich, ist aber dringend notwendig. Es geht um Zusammenhalt in Europa und gegen Ausgrenzung und Rassismus. Jetzt, immer und überall gegen Nazis – auch in der Popkultur.

Pop war einmal entstanden inmitten der Trümmer, die Faschismus und Krieg hinterlassen hatten: Mit der Verteidigung einer besseren Welt sollte der Fortschritt wieder in Gang gesetzt werden. Doch irgendwann ist Pop scharf rechts abgebogen – diese Ausgabe von TESTCARD betreibt dazu Ursachenforschung. Die TESTCARD Bücher erscheinen übrigens ein- bis zweimal im Jahr (je ca. 300 Seiten). Diverse Artikel zu Musik, Film und zeitgenössischer Kunst kreisen in jeder Ausgabe um einen wechselnden Themenschwerpunkt. Hier zeigen zahlreiche Artikel von Roger Behrens, Jonas Engelmann, Frank Apunkt SchneiderLaura Schwinger, Anna SeidelJana Sotzko und Holger Adam facettenreich auf, wie es zu einer Bedeutungsentwertung des Pops gekommen ist.

Der Rechtsruck wird aus umfangreichen Perspektiven erzählt. Von der aufschlussreichen Standortbestimmung („Hat die ‚Poplinke’ ein Problem?“) über die geschichtliche Entwicklung („Pop & Faschismus“) bis zur Entzauberung bekannter Verschwörungsmythen („Die spirituelle Querfront“) wird der Leser:innenschaft ein thematisches Grundgerüst angeboten. Gleichzeitig werden gekonnt ergänzende Betrachtungen wie etwa rechte Frauen im Popgeschäft („Weiche Formen, harte Worte“), Computerspiele mit rechten Botschaften („Besser auf Nazis im Spiel ballern als einer zu sein“) oder rechtsextreme Meme-Kultur mitbetrachtet.

Dem nicht genug regen überraschende Texte zu den bekanntesten Diktatorenromanen („Den Terror greifbar machen“), Minimalismus/Achtsamkeit („Ordnung ist das ganze Leben“) und einem ähnlich peinlichen Männerbild zwischen (teilweise älteren männlichen) Punks und rechten Lebenswelten (Stichwort: Männer Rock´n´Roll!) wirklich zum Nachdenken an. Abgerundet wird Ausgabe #27 durch Rezensionen aus den Bereichen Tonträger, Print und Film. Alle Beiträge sind sprachlich versiert formuliert und beinhalten Abbildungen.

„Rechtspop“ ist eine sehr umfangreiche TESTCARD-Ausgabe, weil sie einerseits die erwähnte Thematik gut strukturiert aufbaut und andererseits die alarmierende kulturelle Situation gekonnt beschreibt. Mehr noch: Sie ist ein Augenöffner für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung weltweit.

Das knapp 300-seitige Werk bildet eine ehrliche, aufschlussreiche und zugleich nachdenkliche Lektüre. In diesem Sinne: #wirsindmehr #nazisraus #goodnightwhitepride

Text und Foto: aL

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