Claudia Sammer: „Wild Card“. Braumüller, Wien 2021
Neben der Spur
Als „Wild Card“ wird in der Zukunftsforschung ein Ereignis bezeichnet, das extrem unwahrscheinlich ist, aber den Lauf der Dinge komplett umkrempelt. Die weltweite Corona-Pandemie ist so eine Wild Card. Und davor war es der Terroranschlag auf das World Trade Center.
Zwischen diesen beiden Polen siedelt die Grazer Autorin Claudia Sammer ihren dritten Roman, „Wild Card“, an. Im Zentrum steht Klara, eine österreichische Psychologiestudentin, die am 11.9.2001 zufällig in New York ist und die apokalyptische Stimmung in Begleitung eines amerikanischen Zufallsbekannten hautnah miterlebt. „Die Stadt, die niemals schläft, liegt im Koma.“ Für Klara und ihren Begleiter wird das Ereignis zum Sinnbild für die Orientierungslosigkeit, die sich im Westen seither ausgebreitet hat. Während der US-Freund nach einigen Jahren sein Glück im Urban Gardening erfährt, muss Klara in Österreich einsehen, dass sie in ihrem Beruf als Therapeutin keinen rechten Tritt findet.
Dieses Gefühl, neben der Spur zu sein, teilt sie sich mit der Hauptfigur des zweiten Handlungsstranges: Es ist der am Schicksalstag 9/11 geborene Totte, der als Junge von seiner leicht verrückten Nachbarin Gitte für die Sternkunde begeistert wird. Totte beginnt Staub zu sammeln, weil der aus dem Weltall stammt. Bei einem Ausflug mit Gitte ertrinkt der Junge beinahe im Neusiedlersee, wobei er die Nahtoderfahrung als Offenbarung erlebt. Viel später fällt die alte Nachbarin als eine der Ersten der neuen Covid-Erkrankung zum Opfer, und Totte legt ihr die Nördliche Krone – das Sternbild Corona Borealis – mit Zuckerstücken aufs Grab. Als ob ein geheimes Muster hinter der Pandemie stünde.
Claudia Sammers Stärke sind metaphorisch aufgeladene Szenen und knappe, präzise Dialoge, mit denen sie die unsichere Grundstimmung unserer Zeit und die inneren Kämpfe ihrer Protagonisten auf den Punkt bringen. Erst am Ende von „Wild Card“ deutet sich ein Ausweg aus dem Ungewissen an.
Rezension & Foto: Werner Schandor