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Telefonstück des Monats

Clemens J. Setz: “Flüstern in stehenden Zügen”, Schauspielhaus Graz

Es ist dies, so flüstert mir der freundliche Kollege von der Krone zu, gerüchtehalber das letzte Stück, das Clemens Setz sich direkt zuschreiben lässt. In Zukunft soll es in den Theaterprogrammen heißen “nach Motiven von” oder so was in der Art. Verständlich, denn Setz schreibt auch keine klassischen Stücke, sondern baut Mikrokosmen, in denen man eher keine klar strukturierte Handlung findet. Das funktioniert manchmal gut und manchmal weniger. An diesem Uraufführungsabend im Haus Zwei des Grazer Schauspielhauses Graz funktioniert es sogar sehr gut, wofür nicht nur der Text verantwortlich ist, sondern auch die sehr souveräne und wandlungsfähige Regie von Anja Michaela Wohlfahrt.

Nach 15 Minuten denkt man sich: “Was soll da noch passieren?” Die Antwort ab Minute 16: “Ziemlich viel.”

Die Bühne im Niemandsland zwischen Ikea und Ladenstein stammt von Teresa Joham – und auch das ist mehr als nur erwähnenswert. Es wird aufgeklappt und zugeklappt, es wird geschlafen, kommuniziert und gearbeitet und das in drei Zellen mit wenigen Quadratmetern.

Auf dem bisschen Bühne im Zentrum des Geschehens agiert Raphael Muff als C. Er hat ein sehr spezielles Faible, das er Abend für Abend auslebt. Er ruft bei Spammern und Scammern an, bei Menschen, die versuchen mit Phishing-Mails Gutgläubige auszunehmen und ihnen Kontodaten zu entlocken oder Überweisungen von Bitcoins zu veranlassen. Ihr Versprechen: Sie lösen deine Probleme, entsperren deinen Computer oder dein blockiertes Bankkonto, entfernen die Viren vom deinem PC.

Herr C. hat das längst durchschaut und verwickelt die betrügerischen Callcenter-Agenten in Gespräche, versucht Details über ihr Leben zu eruieren, beschimpft sie oder bemüht sich, Freundschaften mit ihnen aufzubauen. Ein Szenario, wie es wohl nur Herrn Setz einfallen kann. Es steht zu befürchten, dass er es auch erlebt hat.

Tagsüber arbeitet C. in einem Computerladen und trifft dort auf die Kundin (Evamaria Salcher). Um ihr ein wenig näher zu kommen, erzählt er ihr Schauermärchen über ihren defekten Laptop. Und zwischendrin agiert Franz Solar als herrischer Spammer-Lehrer sowie als Techniker. Das Publikum darf auch ein wenig mitmachen und so kann der Schreiber dieser Zeilen in Zukunft in seiner Biographie anmerken: “wirkte mit in einem Stück von Clemens Setz”. Dieser verbale Gastauftritt wird allerdings nicht in die Grazer Theatergeschichte eingehen.

Und wie war’s? Nach vielen Monaten ohne leibhaftige Kultur wirkt dieser Abend wie ein Durchpusten des streaming-geschädigten Hirns. Überzeugende Schauspieler*innen, ein Stück außerhalb jeder vernünftigen Lebenswelt und ausgesprochen starke musikalische Interventionen von Grilli Pollheimer.

Was will man mehr?

Noch zu sehen am 11., 16. und 17. Juni im Haus Zwei.
Foto: Evamaria Salcher und Raphael Muff 
© Lex-Karelly 2021

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