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Diverses Dramen, die das Leben schrieb

Wohnungstheater des Monats

“Die Vertriebenen”,  Stück von Martin G. Wanko, Aufführung des Theaters im Keller Wohnzimmer

Wie würde es Ihnen gehen, wenn über Ihnen plötzlich eine Familie mit Migrationshintergrund einquartiert würde? Wahrscheinlich würden Sie als freundlich gesinnter Mensch erst einmal so wie Herbert (verständnisvoll und durstig: Bernd Sracnik) reagieren. Kennenlernen, das Gespräch suchen, gern auch ein bisschen vom fremden Essen kosten. Aber was ist, wenn der Lärm von oben immer ärger wird, weil es halt ungeachtet aller Nationalitätsfragen schwer ist, ein halbes Dutzend Kinder ruhig zu halten? Wobei Verständigungsprobleme noch zu den kulturellen Unterschieden kommen. Haben wir schon erwähnt, dass es sich um eine – huch! – tschetschenische Familie handelt? Was also dann? Würden Sie wie Agnes (souverän entnervt: Ninja Reichert) peu á peu die Nerven wegschmeißen?

Das ist die Grundkonstellation. Sie ist, soviel darf verraten werden, durchaus aus dem Leben des Autors gegriffen, der sich – so wie vermutlich nicht wenige von uns – schon selbstkritisch im Alltag fragen musste: Wenn man per Selbstdefinition kein intoleranter Ausländerfeind ist, wie geht man mit so einer Situation um?

Die Geschichte hat in der Inszenierung von Alfred Haidacher etwas sehr Unmittelbares. Denn Agnes und Herbert tragen ihre Konflikte nicht im Theater, sondern in einem privaten Wohnzimmer in der Grazer Naglergasse aus. Vor 10 Besuchern (mehr sind im Raum derzeit nicht erlaubt wegen dem Covidl). Darunter waren bei der Premiere der Grazer Kulturstadtrat und der Besitzer der Wohnung. Beiden merkte man trotz ihrer Masken an, dass sie das Thema nicht gänzlich kalt ließ.

Man ist als Besucher*in nämlich mittendrin statt nur dabei. Wenn Herbert die Bierdose aufreißt, kann man schon einmal ein paar Spritzer Gösser abbekommen. Wenn Agnes die nächste Übersiedlungskiste schnappt, kommt man ihr fast in die Quere. Und man kann sich nicht zuletzt durch diese Nähe sehr gut einfühlen in die Debatten des Ehepaars, man hört ja selbst die ohrenbetäubendende Geräuschkulisse aus der Nachbarschaft.

Vor allem Herbert sucht den Dialog, mit dem Flüchtlingsverein, der die Familie betreut, mit dem Vermieter, mit den anderen Hausbewohnern. Agnes hingegen sieht sich bald selbst als “Vertriebene”. Am Ende finden die beiden doch einen Weg, der zwar für sie eine “Win-Win-Situation” darstellt, das Problem allerdings auch nicht wirklich löst.

Wanko gelingt es mit diesem – für ihn überraschend “unbrachialen” – Stück ein Thema auf die Bühne oder besser auf den Boden zu bringen, das eigentlich viel Anlass zu Polemik und politischem Kleingeld böte. Ein Thema, das hier aber unzynisch und offen verhandelt wird – und so mit etwas gutem Willen durchaus Anlass zum Hinterfragen des eigenen Handelns und Denkens böte. Wie “gut” sind wir eigentlich, wenn es um unseren eigenen Lebensbereich geht? Endet die Toleranz letztlich doch immer an der Wohnungstür?

Das darf man auch gerne selbst ausprobieren. Als Besucher*in bei einem von mehr als dutzend Aufführungsterminen. Oder als Wohnungsbesitzer*in, denn dieses Stück kann man auch für die eigenen Räumlichkeiten “mieten”. Infos unter: www.tik-graz.at/

Foto: J. J. Kucek / Theater im Keller

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