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SIBYLLE BERG: „Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen“. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2020

TED-Talks mit Frau Berg

„Nerds retten die Welt“? – Zeit wird’s! Aber ob das so einfach hinhaut mit der Weltrettung, das ist fraglich.

Bei den Recherchen für ihren Roman „GRM. Brainfuck“ hat die Autorin Sibylle Berg Gespräche mit Fachleuten verschiedener Disziplinen geführt – etwa mit dem Astrophysiker Abraham Loeb, der Sozialwissenschaftlerin Valerie M. Hudson oder dem Neuropsychologen Jens Foell. 16 dieser Interviews, die bereits im Schweizer Magazin „Republik“ zu lesen waren, wurden nun unter dem Titel „Nerds retten die Welt“ als Buch veröffentlicht.

Unter Nerds versteht Sibylle Berg „Menschen mit einer Tunnelbegabung oder einer sehr starken Fokussierung auf ein Thema.“ So gab sie es der Tageszeitung „Die Presse“ im März zu Protokoll. „Wenn man nicht völlig doof ist und sich intensiv und lang mit einem Thema beschäftigt, bleibt ein süchtig machender Wissensvorsprung nicht aus, der einen Drang nach immer verfeinertem Denken mit sich bringt.“

Was die interviewten „Nerds“ aus Deutschland, der Schweiz, den USA und Israel trotz unterschiedlichster Fachdisziplinen eint, ist ihr wissenschaftlich-sachlicher Zugang, der auf Fakten, Evidenz und Überprüfbarkeit fußt. Und das bildet ein Gegengewicht zur „nicht nachlassenden und zurzeit eher wieder anwachsenden kollektiven Irrationalität“, die etwa der Sozialpsychologe Rolf Pohl als gesellschaftliches Problem ortet. Sibylle Berg selbst sagt es drastischer: „Das Ausmaß der Blödheit, das gerade sichtbar ist, ist überwältigend.“

Astreine Aufklärung

Von daher ist „Nerds retten die Welt“ ein astrein aufklärerisches Buch, das den an allen Ecken und Enden hervortretenden Idiotien eine dicke Dosis Vernunft entgegensetzen möchte, garniert mit Sachverstand und stichhaltigem Wissen. Sibylle Bergs Gespräche drehen sich um politische Kultur, künstliche Intelligenz, menschliche Dummheit, Mensch-Maschine-Interaktionen, medizinische Forschung, Ökologie und wiederholt um Feminismus und Gewalt gegen Frauen. Im Zentrum steht stets das Expertenwissen der Interviewten; sie geben Auskunft über den Forschungsstand im jeweiligen Fachgebiet. Lediglich beim Gespräch mit dem israelischen Neurobiologen Iddo Magen geht es weniger um dessen Spezialgebiet Gensequenzierung, sondern vielmehr um sein politisches Steckenpferd, die Legalisierung von Cannabis. (Da wäre vielleicht ein Suchtmediziner wie Kurosch Yazdi ein besserer Gesprächspartner gewesen.) Und im Interview mit der amerikanischen Pathologin Elizabeth Anne Montgomery erfährt man neben wissenschaftlichen Fakten auch etwas, das man nach Corona gut in Partygespräche einflechten kann: Dass nämlich die populäre Darstellung von Pathologen in Fernsehkrimis aktuell an den Universitäten dazu führt, „dass intellektuell eher mittelbegabte, aber mediensüchtige Schüler dazu inspiriert werden, sich mit der Pathologie auseinanderzusetzen“.

Pessimismus vs. Gestaltungswille

Sibylle Bergs Ausgangsfrage an ihre Interviewpartner ist stets die gleiche: „Haben Sie sich heute schon Sorgen um den Zustand der Welt gemacht?“ Ergebnis: Fast alle der Befragten sorgen sich täglich um den Zustand der Welt. Als eine der drei Ausnahmen sieht die Historikerin Hedwig Richter aus ihrer Perspektive als Demokratie-Expertin keinen Anlass für Pessimismus. „Demokratieverständnis hängt eng mit unserem Geschichtsverständnis zusammen: dass die Welt kein unveränderliches Tal der Tränen ist, sondern dass Menschen sich für potent halten und die Welt gestalten wollen.“ Mit den Worten: „Es ist bemerkenswert, dass gerade so viele Linke aus dem Jammern und Ängstigen gar nicht mehr rauskommen“, bietet sie als Einzige dem schnoddrigen Bobo-Pessimismus von Sibylle Berg Paroli und schürt so etwas wie Hoffnung, dass man den globalen Problemen mit Taten beikommen könne.

Andere Forscher lassen, was den Zustand der Welt angeht, eher wenig Optimismus aufkommen, und für unsere Zukunft gänzlich schwarz sieht der US-Meeresökologe Carl Safina. Angesichts des Vernichtungsfeldzuges, den wir gegen die Natur führen, konstatiert er schlicht: „Menschen sind mit dem Rest des Lebens auf der Erde nicht mehr vereinbar.“

Buch gewordener TED-Talk

„Nerds retten die Welt“ ist mit QR-Codes gespickt, über die man auf Wikipedia-Einträge, Fachartikel und TED-Talks der Interviewten gelangt. Ein bisschen erinnert das Buch an solche TED-Talks. Wer sich hin und wieder öffentliche wissenschaftliche Vorträge anhört, Wissenschaftsartikel in Zeitungen liest und die Forschungsmagazine von Universitäten durchblättert, dem eröffnet Sibylle Bergs Kompendium erstaunlich wenig Neues. Aber das ist OK: Wissen ändert sich in der Regel langsamer und ist weniger marktschreierisch als die neueste hirnrissige Verschwörungstheorie aus dem Netz.

Auch dass sich Sibylle Berg bei der Wahl ihrer Gesprächspartner offensichtlich allein von ihren eigenen Interessen und der geografischen Verfügbarkeit der Interviewten leiten ließ und es keinen roten Faden durch das Themenlabyrinth gibt, ist verschmerzbar. „Nerds retten die Welt“ zeigt Möglichkeiten auf, die Zukunft positiv zu gestalten. Und diese befeuern den Wunsch, Politiker mögen sich bei ihren Entscheidungen nicht nur in Zeiten von Corona von Experten leiten lassen. Der Weltprobleme, wo vernünftige Entscheidungen gefragt wären, gibt es genug – vom Klima über den Artenschutz bis hin zur Ungerechtigkeit zwischen Geschlechtern und Gesellschaftsschichten. Die Herrschenden und Wirtschaftslobbyisten haben den Karren ziemlich an die Wand gefahren. Jetzt sollen sie mal eine Rettungsgasse für die Nerds freimachen!

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