ANJA SCHERZ: “Goldstein. Ein phantastisches Leben”, STROUX edition 2024
Norbert Burger, deutscher Schauspiellehrer, behauptet eines Tages, er sei Sohn der Jüdin Esther Goldsein. Sein Vater sei gar Otto Frank, der als Vater von Anne Frank Geschichte geschrieben hat. Er selbst sei 1949 in Amsterdam geboren und die Familie Burger habe ihn später adoptiert.
Er ändert seinen Namen und wird zu Raphael-Maria Goldstein. Er zieht von Stadt zu Stadt, von Schauspielschule zu Akademie. Überall hinterlässt er rätselhafte Spuren. Am Ende seines Lebens bekommt er ALS und stirbt bei klarem Verstand, doch des Sprechens beraubt. Dabei wollte er noch seine Biographie veröffentlichen, sein abenteuerliches Leben als Halbbruder der berühmten Anne Frank.
Diese Aufgabe erfüllt nun Anja Scherz, deutsche Journalistin, die sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt. Und bald, zu bald, entdeckt sie: Norbert Burger hat sich ein Leben als Jude zusammengereimt, an dem kaum etwas einer Überprüfung stand hält. Die jüdische Mutter existierte nie. Otto Frank war nicht sein Vater. Norbert Burger war Hochstapler, Träumer, Phantast, der mit der Zeit seine eigene Lügengeschichte zu glauben schien.
Um all das besser zu verstehen, liest Anja Scherz psychologische Bücher, vertieft sich in das Leben von Anne Frank, trifft viele Weggefährten des vermeintlichen Herrn Dozenten Goldstein, spricht mit seiner Frau und deren Sohn, liest seine Manuskripte. Und am Ende bringt sie ein Buch heraus, das zuerst einmal spannend klingt und zugleich eine sehr ambivalente Angelegenheit ist.
Der erste Vorwurf, den man der Autorin kaum ersparen kann: Sie hat mit großer Mühe ihren Plot aufgeblasen. Schon zur Hälfte ist eigentlich alles klar. Die Lebensgeschichte ist erfunden. Aus, basta. Doch Scherz will partout deutlich über die 300 Seiten hinaus schreiben und hier kommt Vorwurf Nummer 2. Im Nachlass des Norbert Burger finden sich Briefe an seine angebliche Halbschwester, die Scherz zu großen Teilen abdruckt. Sie sind eine klare Grenzüberschreitung, gerade wenn man sich mit der tragischen Geschichte dieses jüdischen Mädchens beschäftigt hat. Sie sind auch in keinster Weise brillant, eher wehleidig und verworren.
Ein paar Auszüge daraus hätten gereicht, um die absurden Gedankengänge des Norbert Burger nachvollziehen zu können. Es gibt keinen Grund, diese Briefe einen nach dem anderen abzudrucken, außer den einen: Den mit dem erwünschten Umfang.
So quält man sich beim Lesen durch eine Geschichte, die man kurz und bündig erzählen hätte können oder die man kunstvoll zu einem Lebensdrama erheben hätte können. Im einen Fall wäre es eine wirkliche journalistische Recherche gewesen. Im anderen Fall eine literarische Annäherung. Die Mischform, die Scherz versucht, indem sie sich selbst in der dritten Person darstellt, gelingt nicht. Dabei kann man gar nicht abraten, in dieses Buch hineinzulesen. Denn der Stoff ist gut, daran besteht kein Zweifel. Das Resultat aber ist in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend und wird auch dem phantastischen Schwindler Burger nicht gerecht. Auch wenn manche Blogs das gänzlich anders sehen.
2 Antworten auf „Lügengeschichten des Monats“
Guten Morgen,
zunächst mal verbindlichsten Dank für die freundliche Verlinkung. 🙂
Ich kann die Kritik an der Länge durchaus nachvollziehen, ich persönlich fand es aber durchaus auch zu dem Zeitpunkt, an dem eigentlich klar ist, dass an der ganzen Geschichte nichts dran ist, spannend zu lesen, aus welchen einzelnen Bausteinen genau Burger denn nun sein Lügengebäude zusammengesetzt hat.
Und was die Briefe angeht, ja, die kann man als geschmacklos, und ihre Veröffentlichung als unnötig betrachten. Für die Frage, wie Burger so tickte – und anhand eben dieser Briefe lässt sich wohl sagen: nicht so ganz rund -, erscheinen sie mir aber wichtig, wenn auch nicht unbedingt in diesem Umfang, da gebe ich dir recht.
In jedem Fall war es aber spannend, auch eine in Teilen abweichende Ansicht zu diesem Buch zu lesen. 🙂
Ich wünsche einen guten Wochenstart.
Frank
Danke dir für den freundlichen Kommentar. Wie immer ist das alles natürlich auch Geschmacks- und Einstellungssache. Mir tat es ein wenig leid um das an sich sehr interessante Thema. Ich glaube, das konnte man ohnehin gut rauslesen. Einen schönen Bücherfrühling wünsche ich dem Reisswolf.