STEREO TOTAL: „Chanson Hystérique“, Tapete Records VÖ: 05.11.21
Das Duo der charmanten Sängerin Françoise Cactus und des schrägen Musikanten Brezel Göring veröffentlicht mit dieser Rückschau über ihre ersten zehn Jahre (1995-2005) sieben CDs respektive LPs samt Fotobuch. Das Traurige an der Sache: Madame Cactus ist im Feber verstorben, so bekommt der Überblick etwas Endgültiges. Die Songs sind der nackte Wahnsinn zwischen DIY-Punk, Post New Wave und Trash-Pop. Darunter Klassiker wie „Miau Miau“ mit dem hymnischen gebrüllten: „Wilde Katze!“ oder der Sex-Track „Push it“. Allein auf den ersten 6 Platten bekommt man so 97 Songs, jeder mit einer sehr speziellen Energie. Wenn man das alles am Stück hört, wird man wahrscheinlich auf der Stelle komplett crazy, aber man kann ja auch zwischendurch Pausen machen. Vor uns liegt jedenfalls nicht weniger als ein Riesen-Œuvre, das sich durch eine liebevolle Schlumpfigkeit auszeichnet. Oder wie Brezel mal sagte: „Wir haben mit Stereo Total die Lieder gespielt, die wir selbst gerne hören wollten. Unterhaltsam, jenseits der Zumutung des Massengeschmacks, naiv, pervers und immer ein bisschen daneben. Vor Konzerten hat mich Françoise oft ermahnt, nicht zu genau zu spielen. Das Publikum würde sonst denken, da liefe eine Platte. Das ist mir nicht schwergefallen, wo ich selbst teure Instrumente wie eine 50-€-Gitarre klingen lassen kann und so gut wie alles, was wir spielen, Instrumente wie eine 50-€-Gitarre klingen lassen kann und so gut wie alles, was wir spielen, auf Fehlern beruht.“
Was für eine Sammlung!
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ABBA: „Voyage“, Universal Music VÖ 5. 11. 2021
Wenn wir schon bei Rückblicken sind: Bei den vier Stars aus Schweden ist die Geschichte sogar schon vierzig Jahre her. 1981 erschien ihre erste LP. Nach einer langen Nachdenkpause gibt es sogar wieder eine Zukunft: 2022 startet eine neue virtuelle Tournee mit „Abbataren“, offenbar ist das schwedische Pensionssystem doch nicht so gut, wie man immer sagt. Wenn Konzerte anstehen, sagten die Abbas, dann braucht es auch neue Songs. Und jetzt wird es leider weniger knusprig (keine Knäckebrote-Jokes bitte!). Die zehn Tracks klingen bestenfalls nach Song Contest rund um die Jahrhundertwende („I can be that woman“). Manches ist so mau und flau, dass man sofort einschlafen möchte. Anderes wieder kommt daher wie aus einem alten schmalzigen Disney-Musical. Und dann gibt es richtig übel dahergeschusterten Pop-Schas („When you danced with me“). Das hat die Welt nicht gebraucht, sorry!
Und dabei waren wir wirklich immer Fans und gehören nicht zu diesen zynischen Menschen, die Abba angeblich schon damals verachteten (habt ihr nicht, ihr kleinen Scheißer!). Man hätte sich im Jahr 2021 aber gerade als Fan Songs erhofft, die aktuelle Themen ansprechen, die dem glatten Schmuse-Sound eine zeitgemäße schwedische Note geben, die irgend so was wie Charakter zusammen bringen. Fehlanzeige, da kann man noch so oft singen: „I still have faith in you“. Wir nicht in euch. Danke für nix!
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HARD FEELINGS: „Hard Feelings“, Domino Records VÖ 5. 11. 2021
Glücklicherweise geht es auch anders. Ganz anders! Echte, heiße Gefühle findet man in großer Menge auf diesem ersten gemeinsamen Album der grandiosen Diva Amy Douglas aus Brooklyn und Joe Goddard, den man vom britischen Quintett Hot Chip kennt. Der Gerüchteküche nach schickte Joe Amy einen Tweet: „Amy, can we make a thing?“. „The Thing“ sind acht Songs, die Style mit Sex-Appeal verbinden. Die Botschaft ist selten sehr verschlüsselt, auch die Musik will geradlinige und doch glitzernde Sounds zwischen House, Disco, Anklängen an Soul und Synthie in die Welt schicken. Wird es ein Leben in den Clubs geben in den kommenden Wochen? Wenn ja, ihr DJs da draußen, legt euch die Scheibe zu und zwar pronto. Und wenn nein? Dann ist es an uns, die kalten dunklen Winterabende selbst mit Liebe und Wärme zu füllen.
Wie sagt Amy Douglas über die Arbeit an Hard Feelings: „I want to be Carole King. I want to be Neil Diamond. I want to write all these great songs, and I don’t care which genre they’re in. I just want to write them all.” Große Klasse!
Foto: © Pooneh Ghana
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ALA CYA: „Reflection“ VÖ 12. 11. 2021
Die junge deutsche Musikerin geht gern ihre eigenen Wege. Die haben sie schon im zarten Alter von 9 Jahren zu ersten Songs geführt, später spielte sie als Jugendliche in Krakau auf der Straße und spätestens mit 19 landete sie in Spanien und wusste: Das ist mein Job, das ist mein Leben. Später nahm sie in wenigen Tagen eine EP auf und nun ist es soweit: Das erste Album ist da. Und es ist wunderschön. Reduziert und auch wieder nicht. 13 Songs über ihre Gefühle, ihre Eindrücke von unterwegs, über das Menschsein. Dazu kommt eine Stimme, die Dir die Gänsehaut über den Rücken jagt. Ein phantastisches Debut und in solchen Momenten macht es wieder Spaß jedes Monat in Dutzenden Platten nach Schätzen zu suchen. Kostprobe gefällig?
MALA OREEN: „Awake“, VÖ 5. 11. 2021
Und wenn ihr gedacht habt, jetzt alle spannenden Frauenstimmen mit ihren neuen Platten kennengelernt zu haben, dann können wir lächelnd entgegnen: Wohl noch nie von Mala Oreen gehört? Sie ist eine Singer-Songwriterin und Fiddlerin, die auf diesem Album mit Gesang, Geige, Gitarre und Mandoline präsent ist. Wenn eine US-Schweizerin monatelang in Austin, Texas an einer Platte arbeitet, dann kommt das heraus. Eine glasklare Stimme erzählt vom Weggehen, vom Ankommen, von den staubigen Straßen. Über alldem scheint aber der selbe Mond für uns alle, ob in den Gebirgstälern oder der Wüste. Es ist eine sanfte und doch bestimmte Platte zwischen Americana, Folk und Pop. Hoffentlich schafft sie es tourmäßig auch mal nach Austria!
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LA JARRY: „Precious Time“, Jamie Productions/Believe VÖ 12. 11. 2021
Zum Abschluss dieses schönen Monats gibt es französischen Schweinerock der dynamischen Sorte. Ganz stimmt es allerdings nicht, bei Songs wie „America“ schließen die Franzosen eher an Manu Chao an, soweit wir das nachvollziehen können. Andere Lieder versuchen Hymnen zu sein. Einen Preis für raffinierte Gestaltung oder schlaue Texte gibt es für die Songs sicher nicht. Aber für eine komplexe Welt sind so simple Platten manchmal genau das richtige Gegenmittel, um nicht durchzudrehen. Pfeift mit, Leute, es kommen wieder hübschere Zeiten auf uns zu.