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Buch des Monats Sachbücher

Politbuch des Monats

Peter Pilz: „Kurz. Ein Regime“. Kremayr & Scheriau 2021.*

 

Was verbindet so (politisch) unterschiedliche Charaktere, Köpfe und Typen wie Josef Cap, Andreas Khol und Peter Pilz? Auch wenn die Frage eher schräg klingen mag, mehr als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Cap, Khol und Pilz waren/sind hervorragende Rhetoriker, sie mussten den Begriff Polemik nicht im Fremdwörterduden nachschlagen und ihre Parlamentsreden waren nicht nur gelegentlich rhetorische Feuerwerke mit (Hoch-)Genusspotential. Darüber hinaus gehören sie zur (rarer werdenden) Spezies von Politikern, die nicht nur Bücher schreiben, sondern man sollte sie auch gelesen haben.

Was ist das Verbindende zwischen Jörg Haider und Sebastian Kurz? Zum einen füll(t)en beide (wohl nicht nur zum eigenen Missvergnügen) die Rolle des Gott-sei-bei-uns der heimischen Innenpolitik aus, zum anderen gibt es – und sie stellen dabei den ja auch nicht ganz unbedeutenden Bruno Kreisky locker in den Schatten – keine Politiker, über die – in einer Mischung aus Alarmismus und schreibendem Scheitelknien – innerhalb kurzer Zeit dermaßen viel publiziert wurde.

Peter Pilz hat wieder einmal seinen „Giftschrank“ geöffnet und der (notorisch neugierige) Rezensent ist sich nicht sicher, ob er selbst darin einmal Nachschau halten wollte. Pilzens Buch kreist um drei Kernthemen.

Erstens ein Ausweiden der Aussagen (bzw. Vergesslichkeiten) im sogenannten Ibiza-Untersuchungsausschuss, dessen ursprünglicher Titel „Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung (Ibiza-Untersuchungsausschuss)“ lautete (Kompliment an dieser Stelle an die FPÖ, dass es innerhalb kürzester Zeit ein ÖVP-Untersuchungsausschuss wurde). Da erfährt man zwar wenig substantiell Neues – aber es erinnert daran, dass Vergessen offensichtlich mit dem Altern positiv korreliert.

Zweitens, und (Stichwort „Giftschrank“) da liest sich das Buch wie ein Krimi, wie – folgt man Pilz – die ÖVP sowie vor allem deren Prätorianer in Exekutive und Justiz systematisch versuchten, die in Richtung ÖVP weisenden Spuren entweder systematisch nicht zu folgen oder zu verwischen. Diese Teile des Buches (S. 162-201) lesen sich wirklich atemberaubend und erinnern frappant an den Lucona-Skandal um den SPÖ-Günstling bzw. -Protegier Udo Proksch in den 1980ern. Da bei Abfassung der Rezension das Gerücht kursierte, das Buch sollte eingezogen werden (da danach die Verkaufszahlen explodierten, wird der Verlag den entsprechenden Protagonisten wohl ein Dankeschön-Paket unter der „Anfütterungsgrenze“ zukommen lassen), entbehrt es ja nicht einer gewissen Pikanterie, dieses zu besprechen.

Drittens: Die politische Kernthese von Peter Pilz lautet: „Mit der Wendung gegen Ausländer, gegen Brüssel und gegen ‚das System‘ ist im Sommer 2016 klar, dass Kurz aus seiner ÖVP eine freiheitliche Staatspartei macht.“ (S. 49) Folgt man den einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen zu den unbestreitbaren Wahlerfolgen der Volkspartei unter Sebastian Kurz, ist das alles andere als neu. Bleibt allerdings die Frage, was daran ein „Regime“ ist, das – wie nicht nur Pilz an einer Stelle – Parallelen zum Dollfuß-Schuschnigg-Regime vulgo „Austrofaschismus“ insinuiert, im Tandem mit Viktor Orban zur europäischen Bedrohung (S. 231f.) sein soll. „‚Regierung‘ bezeichnet das Kabinett der Personen, die an der Spitze ihrer Ministerien die Anweisungen geben. Traditionell ist die Exekutive mit Regierung und Verwaltung in Österreich die stärkste Staatsgewalt, weit mächtiger als die Gesetzgebung und Justiz.“ Dem wird man angesichts der österreichischen Realverfassung schwerlich widersprechen können. „Kurz durchbricht die Grenzen, mit denen die Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Demokratie schützt. Wo die Staatsgewalten zu einer einzigen Macht zu verschmelzen beginnen, wird aus einer Regierung ein Regime.“ So zutreffend das aus der Perspektive einer politik- oder geschichtswissenschaftlichen Deutung auch sein mag, dafür dass Kurz von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft möglicherwiese angeklagt wird, dass diese nicht nur gegen andere (Ex-)Regierungsmitglieder vorgeht, scheint diese Interpretation – auch wenn man hier ganz genau hinschauen wird müssen – zumindest derzeit einigermaßen überzogen. Vielleicht sollte man eher von einem „Regiment“ Kurz sprechen, dessen interner Kern, wie von Klaus Knittelfelder präzise nachgezeichnet, aus bis ins Knochenmark konservativer, vor Selbstbewusstsein und Selbstherrlichkeit strotzender antietatistischen Rankingfetischisten besteht, um die zum einen politische Bulldozer wie Wolfgang Sobotka und Andreas Hanger die politische Landschaft ramponieren und zum anderen „Lichtgestalten“ wie Aschbacher, Schramböck & Co so viel an kabarettreifen Blödsinn und Unsinnigkeiten anrichten, dass die eigentliche Lichtgestalt weder eine innerparteiliche Bremse als Korrektiv noch innerparteiliche Konkurrenz dulden muss.

 

Hier noch weitere Tipps zum Ein-, Weiter-, Wieder- und Auslesen:

Thomas Wilhelm Albrecht: Die Rhetorik des Sebastian Kurz. Was steckt dahinter? Goldegg Verlag 2019.

Helmut Brandstätter: Kurz & Kickl. Ihr Spiel mit Angst und Macht. Kremayr & Scheriau 2019.

Josef Cap: Kamele können nicht fliegen. Von den Grenzen politischer Inszenierung. Molden 2005.

Ders.: Kein Blatt vor dem Mund. Kremayr & Scheriau 2018.

Gerhard Freihofer: Der Fall Udo Proksch oder die Affäre Lucona. In: Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. Hg. v. Michael Gehler und Hubert Sickinger. Kulturverlag 1996. S. 546-567.

Judith Grohmann: Sebastian Kurz. Die offizielle Biografie. FinanzBuch Verlag 2019.

Nina Horaczek/Barbara Tóth: Sebastian Kurz. Österreichs neues Wunderkind? Residenz Verlag 2017.

Andreas Khol: Mein politisches Credo. Aufbruch zur Bürgersolidarität. Molden 1998.

Ders.: Die Wende ist geglückt. Der schwarz-blaue Marsch durch die Wüste Gobi. Molden 2001.

Klaus Knittelfelder: Inside Türkis. Die neuen Netzwerke der Macht. edition a 2020.

Andreas Mölzer: Jörg! Der Eisbrecher. Jörg Haider und die Freiheitlichen – Perspektiven der politischen Erneuerung. Suxxes 1990.

Walter Ötsch/ Nina Horaczek: Populismus für Anfänger. Anleitung zur Verführung. Westend 2017.

Peter Pilz: Eskorte nach Teheran. Der österreichische Rechtsstaat und die Kurdenmorde. Ibera & Molden 1997.

Ders.: Das Kartell. Czernin 1999.

Ders.: Die Vierte Republik. Der Weg zur Reformmehrheit. Czernin 2000.

Ders.: Die Republik der Kavaliere. Czernin 2006.

Ders.: Heimat Österreich. Ein Aufruf zur Selbstverteidigung. ueberreuter 2017.

Hans Prettenebner: Der Fall Lucona. Ost-Spionage, Korruption und Mord im Dunstkreis der Regierungsspitze. Droemer Knaur 1989.

Paul Ronzheimer: Sebastian Kurz. Die Biografie. Herder 2018.

Hans-Henning Scharsach: Haiders Kampf. Orac 1992 (5. Auflage).

Ders.: Haiders Clan. Wien Gewalt entsteht. Orac 1995.

Schlagwort Haider. Ein politisches Lexikon seiner Aussprüche von 1986 bis heute. Mit einem Essay von Franz Januschek. Hg. v. Gudmund Tributsch. Falter Verlag 1994.

Christa Zöchling: Haider. Licht und Schatten einer Karriere. Molden 1999 (2. Auflage).    

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*Anm. des Herausgebers:
Was weder Autor noch Rezensent wussten: Dass dieses Buch nun solche Aktualität bekommt. Die konkreten Geschehnisse und Vorwürfe rund um die Hausdurchsuchungen vom 6. Oktober 2021 spielen hier naturgemäß noch keine Rolle. Einen Link zur Hausdurchsuchung für ganz Neugierige haben wir hier:

https://drive.google.com

 

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