June Cocó: „Méthamorphoses“, Flashback Records / The Orchard, VÖ 12. 3.
„Es war mein Fehler. Es gibt keine Fragen mehr…“ falls unser lausiges Schulfranzösisch nicht täuscht, sind das die ersten Worte auf diesem zauberhaften Album. Das mit den Metamorphosen ist durchaus wörtlich zu nehmen. Die in Leipzig bzw. Berlin lebende Sängerin und Pianistin gab ihre Songs seelenverwandten Musiker*innen und so verwandelten sie sich. Am Beginn stand der Titelsong, der im Original vom franzöischen Duo Ravages stammt und den June Cocó mit viel Liebe zum Detail in ihre Welt hievte. Als „Revanche“ nahmen die beiden sich June Cocós „Heavy Heart“ vor. Und so entstand die Idee, das vergangene Cocó-Album Fantasies & Fine Lines mit Hilfe von Jake Nicks, Max Ashner, Arden, Micronaut oder Phonique in neue Sphären zu transformieren.
Das Ergebnis ist vielfältig, es fällt aus dem Rahmen des Gewohnten und gerade Angesagten. Die acht Songs zählen zum besten, das wir heuer gehört haben. Und: Sie sind auch für Leute interessant, die June Cocó (von dieser Seite) bislang noch nicht kannten. Kleiner Tipp für Menschen, die gern weiterrecherchieren möchten: Die junge Deutsche, die angeblich bereits seit ihrem siebenten Lebensalter Songs schreibt, heißt mit bürgerlichem Namen Stefanie Stieglmaier. Und hat ein Riesentalent, wie wir spätestens seit 2019 wissen. Die Metamorphosen sind daher auch heißer Kandidat auf die europäische Platte des Quartals. Mindestens.
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PeterLicht: „Beton Und Ibuprofen“, Tapete Records, VÖ 5. 3. 2021
„Wenn du traurig bist…“, der gute Mann nimmt erst mal das Tempo raus. Aber keine Angst, die Scheibe bekommt natürlich gleich wieder das typische PeterLicht-Tempo. Sein unwiderstehlicher Wortwitz begeistert in jeder Zeile, sein Gesang mäandert fröhlich durch die 11 Songs.
PeterLicht hat sein Terrain so gut aufbereitet, dass es keine an jeder Ecke zu hörenden Hits mehr braucht, die sich am Sonnendeck sonnen. Der Kölner ist ein ungewöhnlich kluger und zugleich sensibler Kopf, er verfügt über eine Stimme, die man in Sekundenbruchteilen zuordnen kann. Seit gut zwanzig Jahren bezaubert er uns nun mit seinen Songs. So entspannt klang er für uns allerdings noch nie. Da braucht es gar kein Ibuprofen. Wunderbare Platte.
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Roosevelt: „Polydans“, City Slang, VÖ 26. 2.
Fängt eine Sekunde lang an wie Fred vom Jupiter und kriegt nach 2 Sekunden einen Drive, der dich nicht mehr los lässt. Marius Lauber ist „Roosevelt“ und hat in den vergangenen 5 Jahren nicht nur in Insider-Kreisen, sondern auch im gut informierten Mainstream jede Menge Staub aufgewirbelt. Aber gerade als es so richtig gut lief, zog er sich erst mal zurück. Und dann kam der Virus, der aber mit der Platte genau nichts zu tun hat.
Das ist jetzt aber alles ohnehin egal, denn nun liegt die Scheibe im Laufwerk und wir sind verliebt. Das ist Pop im Großformat, gemischt mit Disco vom Allerfeinsten. Schließlich hat der Junge schon in etlichen der cooleren Clubs Europas aufgelegt. „Polydans“, das sind dann auch 10 Songs, die du wieder und wieder hören wirst, die dein Wohnzimmer zum Dancefloor machen, die dafür sorgen, dass du dein Musikgerät nach draußen trägst und die Nachbarschaft beschallst. Ist das blöd, das mit den frühen Pet Shop Boys zu vergleichen?
Wie auch immer: Wenn du mehr als nur einen Hauch Fröhlichkeit und Schwung brauchst, bist du hier aber so was von goldrichtig.
Probehören? Bitte schön!
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Nick Cave & Warren Ellis: „Carnage“ (digital bereits erhältlich, Vinyl und CD erst im Mai) Goliath Records 2021
Der gute alte Onkel Nikolaus hat nach seiner Wahnsinns-Soloplatte „Idiot Prayer“ schon wieder was Neues draußen. Und dieses Mal ist es die allererste Duo-Geschichte mit Bad-Seeds-Kumpel Warren Ellis, wenn man von gemeinsamen Soundtracks absieht. Und Ellis erweist sich gerade mit diesem kammermusikalischen Tonträger als wahrer Meister. Der Australier, der schon länger in Paris lebt, kann halt auch mit sehr vielen verschiedenen Instrumenten und mit sehr diversen Stimmungen umgehen. Es ist eine wahre düstere Freude den beiden beim Musizieren und Singen zu zu hören.
„…eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe“, sagt Mister Cave selbst dazu. Die acht Songs haben etwas Orchestrales, etwas Biblisches (eh klar), etwas Cineastisches, das sie magisch macht. Da hilft alles nicht: Das wird man auf Vinyl kaufen müssen, wenn es da ist.
Foto Cave & Ellis: Joel Ryan
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Jimi Tenor: „Deep Sound Learning (1993-2000), Buerau B, VÖ 9. 4. 2021
Lustigerweise ist Jimi Tenor fast genau gleich alt wie Warren Ellis – beide haben im Frühjahr 1965 das Licht der Welt erblickt. Aber zwischen Finnland und Australien gibt es dann halt doch den einen oder anderen feinen Unterschied. Was die beiden aber verbindet: Mit ihren Kompositionen bauen sie sehr spezielle Welten auf. Und: Die Zahl der Instrumente, die sie spielen, ist mehr als beachtlich.
Das wars mit den Parallelen. Jimi Tenor, der von experimentellen Rockeinflüssen ausgehend zu einem der Klassiker der Elektronik- und (meinetwegen) Techno-Szene wurde, hat sich in den vergangenen 25 Jahren eher recht deutlich in Richtung Jazz entwickelt oder erweitert. Und zwar: In eine coole Ecke des Jazz ohne Nerv-Faktor. Die jüngste Veröffentlichung geht noch einmal in die glorreiche Vergangenheit retour und versammelt auf einer Doppel-LP 19 Songs aus den 1990ern, viele davon bislang unveröffentlicht.
Das ganze startet mit einer Hammer-Nummer: „Exotic House of the Beloved“, feinster – ja was eigentlich? – Trance-Techno, an dem man schon einiges ablesen kann, was dann später noch intensiver kommen wird. Dass Jimi Tenor ein offenes Ohr für die Musik dieser Welt hat, zeigt er eindrucksvoll mit dem dritten Track „Dub de Pablo“, der Latino-Sounds mit Elektronik vermengt. In dieser Tonart geht es weiter. Und immer wieder merkt der Finnland-Freund auch Bezüge zu Suomi, deutlicher als das in späteren Schaffungsphasen der Fall war. Bei „Heinola“ bläst ein staubtrockenes Sax mit ein bisschen Gefiepe und Gezirpe mit Pan- und Querflötenverdacht, bis wieder das allgegenwärtige Boom das Geschehen in den Griff bekommt.
Eine phantastische Scheibe des zart verschrobenen Großmeisters, über den auf seiner Website die folgenden wahren Worte zu lesen sind: „established European artist who operates outside the mainstream“. Und weil das so ist, ist diese 2-LP die ideale Einstiegsdroge in die seltsame Welt des Lassi Lehto, wie Mr. Tenor mit bürgerlichem Namen heißt. Aber – und das sei mit Nachdruck gesagt – diese Platte hört man nicht nebenbei, die will Konzentration.