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Tonträger des Monats Dezember / INT

ANE BRUN: “After the Great Storm” (VÖ 30. 10.) und “How Beauty Holds the Hand of Sorrow” (VÖ 27. 11.) / Balloon Ranger Recordings

Wahre Künstler*innen erkennt man halt schon auch daran, dass sie sich nicht um Konventionen scheren. Zuerst hat die Norwegerin Ane Brun jahrelang kein Album mehr veröffentlicht. Dann gleich zwei innerhalb weniger Wochen. Die mittlerweile zumeist in Schweden lebende Sängerin mit der himmlischen Stimme hat keine leichte Zeit hinter sich und sagt auch ganz klar, dass der Tod ihres Vaters sie für Monate, wenn nicht Jahre, aus der Bahn geworfen hat. Um ehrlich zu sein: Wir hatten auch schon zwei Interviewtermine mit ihr vereinbart, aus denen bislang nichts geworden ist. Aber wir sind nicht gram, denn ihre Musik verzaubert uns seit Jahren. Insofern waren wir erstaunt zu sehen, dass auf dem Haubentaucher noch nichts über Ane Brun zu lesen war. Wo doch eines ihrer Lieder einst Abschiedssong auf dem eigenen Begräbnis werden soll. Aber das ist eine andere Baustelle. Und bis dahin haben wir ja hoffentlich noch ein bisschen Zeit.

Jedenfalls sind „After The Great Storm“ und das unmittelbare Nachfolge-Album „How Beauty Holds The Hand Of Sorrow“ zwei intime, vielfältige Zeugnisse ihrer Kunst. Man mag da jetzt gar kein Etikett drüber kleben von wegen Singer-Songwriter-Pop. Spielt keine Rolle. Man hört einen Song, sagen wir mal “Gentle Wind of Gratitude”, und man ist hin und weg. Was beide Alben verbindet? Die Vocals natürlich, aber auch eine Traurigkeit oder besser Melancholie, die kein lässiger Electro-Pop-Sound wegwischen kann. Es geht vor allem auf Platte Nr. 2 auch dramatisch bis theatralisch zu. Fans von Kate Bush bis hin zu Everything but the Girl werden sich sehr zuhause fühlen. Die Suche nach musikalischer Innovation ist dann auch nicht das Hauptmotiv, um sich eine oder zwei Platten von Ane Brun zu kaufen, es ist vielmehr die Sehnsucht nach einem postmodernen Sirenen-Sound, der dich aus deinem Alltag zieht und nach einer Stimme, die dich nie mehr loslassen wird. Bis zu deinem “Last Breath”, bezeichnenderweise dem ersten Song auf der ersten Platte.

NICK CAVE: “Idiot Prayer”, Bad Seed Ltd. / Awal Recordings 2 CD / 2 LP / digital VÖ: 20. 11. 2020

Man kann über dieses Hundsjahr fluchen, was man will, aber es hat uns schon ein paar wichtige Erkenntnisse gebracht: 1) Home-office mit Haustieren ist Stress. 2) Saufen geht, solange man genug zuhause hat und vor allem 3) kreativen Leuten fällt auch in dieser beschissenen Zeit immer wieder was Neues ein.

Da setzt sich also einer hin mutterseelenallein im beeindruckenden Alexandra Palace im Norden Londons und spielt 22 Songs. Nur für Dich und mich, Baby! Das ganze sollte eigentlich sogar ein Kinofilm werden, aber so super ist der Covidl natürlich auch wieder nicht. Plattenläden zu, Kinos zu, Beisln zu. Also: Vorerst zumindest kein Film und auch keine Live-Auftritte von Oberpriester Cave. Aber angeblich im Mai in Wien. Man wird sehen.

Back to the record: Aufgenommen wurde die Doppelscheibe „Idiot Prayer: Nick Cave Alone at Alexandra Palace“ im Juni, als gerade mal kein Lockdown war. Der Auftritt war als Reaktion auf das Eingeschränktsein in den Wochen davor gedacht. Naja, passt jetzt auch. Und ursprünglich hätte das eines dieser eher witzlosen Online-Streaming-Events werden sollen. Dann, ja dann wurde es zum Film, den jetzt zwar auch keine/r sehen kann, aber: Wir haben 22 Nummern voller Cave.

Da sind Klassiker dabei wie “Into my Arms” oder “Jubilee Street”, natürlich “The Mercy Street” oder “Papa won’t leave you, Henry”. Das ganze erweitert um vier Songs, die für das breitere Publikum bisher noch nie zu sehen und zu hören waren. “Idiot Prayer” ist Cave pur. Allein auf sich gestellt. Am Fazioli. Mit seiner Stimme, die einen von der ersten Sekunde an gefangen nimmt. Oh Gott, er ist so groß. Tschuldigung, geht schon wieder.

Aber ganz ehrlich: wir haben schon viele Cave-Platten gehört. Aber keine wie diese. Wer das ohne Pipi in den Augen durchsteht, hat irgendein Problem mit Empathie. So schön…

Abgedreht wurde die Sache in der West Hall des Alexandra Palace von Robbie Ryan („The Favourite“, „Marriage Story“, „American Honey“). Eine Produktion, die – so munkelt man – kein Sekündchen langwierig ist. Aber live ist trotzdem besser fügen wir trotzig hinzu.

Solange es noch nicht soweit ist: Ein Service für alle, die gerne lokal einkaufen und dabei einen dezenten Bogen um das Kaufhaus Österreich machen: Der “Idiot Prayer” kann zum Beispiel im Wiener Plattengeschäft Recordbag gekauft werden. Einfach eine email an: recordbag@chello.at senden. Ihr werdet es nicht bereuen, ihr Cavisten und -innen! Und weil ihr so tapfer seid, schenkt euch der liebe Nickolaus jetzt noch ein Video:

Foto: Joel Ryan

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LOUIS PHILIPPE & THE NIGHT MAIL: “Thunderclouds”, Tapete Records VÖ 11. 12. 2020

„Ich habe noch nie auf diese Weise eine Platte mit einer Live-Band im Studio gemacht, obwohl ich das eigentlich immer einmal tun wollte“, sagt Louis Philippe, der mit bürgerlichem Namen Philippe Auclair heißt. Alles macht man bekanntlich irgendwann zum ersten Mal und in diesem Fall war es eine grandiose Idee. Der Franzose, der schon seit mehr als 3 Jahrzehnten in London lebt, legt mit seiner Band eine Coolness aufs Parkett, dass es nur so eine Freude ist. Der Mann mit der eleganten Stimme hat bislang Bands wie The High Llamas, The Clientele oder Bertrand Burgalat unterstützt, nicht zuletzt gilt er als begnadeter Produzent. Nun ist er dran. Das dachte sich jedenfalls Robert Rotifer, der bei “Thunderclouds” seine Hände im Spiel hatte.

Louis Philippe ist ein Meister des Storytellings, ein Mann, der klassische Songs liebt, der selbst Burt Bacharach, aber auch die Beach Boys als Inspirationsquellen angibt. Und so könnte man mit Fug und Recht sagen: Diese dreizehn Lieder voller zarter Klänge und großer Geschichten bilden die geschmackvolle Alternative zu jeder Weihnachtsplatte 2020. Merci, Monsieur!

Foto: Josh Holland

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THE KILLS: “Little Bastards”, Domino Records VÖ 11. 12. 2020

Was für ein grenzgenialer knochentrockener Punkrock. Wie schockgefrostet aus den späten 1970ern, erhitzt und wiederbelebt mit dem Genmaterial von mindestens einem halben Dutzend Subpop-Bands. Die Kills haben aus bisher Unveröffentlichtem, aus B-Seiten und aus rarem Zeugs eine Doppel-LP gebastelt. “Little Bastards” bezieht sich auf ihre Drum-Machine, die auf dem Album mehr als nur eine superwichtige Nebenrolle spielt. Die Songs sind im Zeitraum 2002 bis 2009 entstanden und sind einfach grande. Zwischen Punk, Garage Rock und Fun-Electro-Elementen toben sich Alison Mosshart und Jamie Hince nach allen Regeln der Kunst aus. Das alles feinstens remastered und in einer unübertroffenen Dreckigkeit. F*** Yeah! Re-Make des Monats!

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SON LUX: “Tomorrows II”, City Slang / digital / VÖ 4. 12. 2020

Dieses ist, wie unschwer zu erkennen, der zweite Streich. Und der dritte folgt im Frühjahr 2021. Dann wird die Triologie auch physisch vorliegen. Ryan Lott macht seit ein paar Jahren mit Ian Chang und Rafiq Bhatia gemeinsame Sache, Son Lux ist also kein Soloding mehr. Wir lobten zuletzt 2018 “Brighter Wounds” und sind auch jetzt enthusiasmiert. Fragilität wird bei Son Lux groß geschrieben. In den zehn Songs prallen Körper aufeinander, Moleküle, Lebensweisen. Die Stimme zieht einem die Gänsehaut auf, schon mit den ersten Takten von “Warning”. Son Lux ist genauso E wie U, hier geht es nie darum, irgendjemandem einen musikalischen Wunsch zu erfüllen. Zerfleddert der Gesang, zerborsten das Piano und die Spieluhr – angekratzt bis zerbröselt aber auch alle Hoffnung. Ein episches Stück Musik. Nix zum flotten Konsumieren. War auch nie die Absicht.

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DIE AERONAUTEN: “Neun Extraleben”, Tapete Records VÖ: 20. 11. 2020

Es  gibt Platten – und gerade Tapete macht sie gerne – die unbekümmert drauflos hauen, die Spaß haben, die das in die Jahre gekommene Yolo-Prinzip feiern. Die “Neun Extraleben” sind leider ein anderer Fall. Die Sache dreht sich um die zweite, dritte, vierte Chance, die der Sänger Olifr M. aka Guz aka Maurmann sich wohl erträumt hatte. Die er aber nicht mehr bekam. Nach zwei Infarkten wartete er im Herbst 2019 vier Monate lang auf ein Spenderorgan. Im Januar 2020 gab sein Herz auf. “Irgendwann wird alles gut”, “mir gehts gut” oder eben doch nicht. Die Schweizer Band, die kommendes Jahr ihr zwanzigjähriges Jubiläum also wohl kaum feiern wird, hat diese Platte daher dem Modellbaufreak gewidmet, dessen Hobby auch für den Bandnamen verantwortlich sein soll. Alles wirklich traurig, denn die Band hatte eine interessante Entwicklung genommen von der britisch inspirierten Punk-Partie hin zu einer breit aufgestellten Band, die eher klassischen Rock mit schön hinterfotzigen deutschsprachigen Texten verband. Und deswegen ist die Platte wie gemacht für alle, die Rio Reiser mochten und The Madness, aber eigentlich auch für alle anderen.

 

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