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Roman des Monats: Der Abfall der Herzen

Thorsten Nagelschmidt: “Der Abfall der Herzen”, S. Fischer Verlag

„Ich konnte noch nie gut loslassen. Ich muss nur eine Jahreszahl hören, die nicht gerade aktuell ist, oder eine Jahreszahl sehen, die länger als fünf Jahre zurückliegt, schon spüre ich dieses Ziehen und Stechen, diese Sehnsucht, diese juckende Stelle, die man nicht kratzen kann. Wahrscheinlich bin ich mit einem Hang zur Nostalgie geboren. Möglicher Buchtitel: Ich war schon nostalgisch, da hatte ich noch gar keine Vergangenheit. Eine Träne, zwei. Tonight I´m gonna party like it´s 1999“,

schreibt Schriftsteller und Ex-Musiker Thorsten Nagelschmidt in seinem schmerzhaft schönen Lebensroman „Der Abfall der Herzen“ und lässt durchblicken, wohin diese Lesereise führen wird.

Vielleicht kennt man Thorsten „Nagel“ Nagelschmidt noch als Sänger und Gitarrist der deutschen Indie/Punkband Muff Potter (1993–2009) oder auch durch seine bisherigen literarischen Werke „Wo die wilden Maden graben“ (2007), „Was kostet die Welt?“ (2010) oder „Drive-By-Shots“ (2015). Im Gegensatz zu jenen Werken gelingt es Nagelschmidt nun, sich vom selbstauferlegten Kreuz und Pseudonym „Nagel“ zu lösen, in schlichter Sprache sein Herz auszuschütten und erstmals unter vollständigem und echtem Namen einen fantastischen Roman über die verlorene Liebe und über die Sehnsucht in uns zu veröffentlichen.

„Der Abfall der Herzen“ ist anfangs eng an Nagelschmidts Biografie angelehnt und lässt auf den ersten Blick einen unaufgeregten Jugendroman und Rückblick in das Jahr 1999 vermuten. Aber dann ist dann doch mehr, viel mehr in diesem Buch. Nagelschmidt gelingt eine Abenteuerbeschreibung des 20-jährigen Nagels, der von seinem älteren Ich Thorsten Nagelschmidt erzählt. Die Ex-Band und die reale Biografie werden in weiterer Folge dezent vermieden. Seine Geschichte wird mit fiktiven Charakteren (z.B. Freunde wie Schacke & Richter oder Lebenskünstler Claus Vosgrüne) verfeinert und mit westfälischem Vokabular (z.B. plästern=regnen, Olle=Frau, Bunken=Prolls, Asis) und abwechslungsreichen Schauplätzen (Rheine, Barcelona, Südfrankreich…) aufgewertet.

Es ist ein „Coming of Age“-Roman, der zwischen den beiden Zeitebenen 1999 und 2015 wechselt und diese geschickt miteinander verknüpft. Mehr noch: Es ist ein Buch im Buch über den letzten großen Sommer vor dem Erwachsenwerden – und auch: vor der Jahrtausendwende. Nagelschmidts viertes Werk beginnt mit dem Ende der Geschichte, wo er erzählt, wie und warum er sich auf die Reise in das Jahr 1999 macht. Immer wieder finden sich unzählige Anekdoten zu damaligen Ereignissen, Verweise auf musikalische Veröffentlichungen (von The Cardigans und Bikini Kill bis zu The Notwist und Guns´n´Roses) und grandiose Dialoge in der Jugendsprache der Jahrtausendwende. Der Autor hat damit einen vor Details strotzenden Mikrokosmos konstruiert, überzeugt durch vielschichtige Erzählungen und schafft es, durch eben diese Anekdoten einen gleichermaßen in sich geschlossenen Fluss zwischen 1999 und 2015 zu generieren.

Mithilfe der alten Tagebücher versucht er, 16 Jahre später seine Jugenderinnerungen zu wecken, und bemerkt rasch, dass diese einseitig und subjektiv sind – und sich im Laufe der Zeit verändert haben. Deshalb vergewissert er sich bei seinen alten Freunden und besucht  Örtlichkeiten von einst, um seine verwaschenen Gedanken in das Licht der Wahrheit zu rücken. Doch je mehr Nagel von seinen Freunden erfährt, desto mehr Puzzleteile aus Vermutungen, Gerüchten und Neuigkeiten muss er wieder zusammensetzen. Rasante Handlungswendungen inklusive.

„Der Abfall der Herzen“ orientiert sich folglich an den Stärken von Thorsten Nagelschmidt: Er ist ein wunderbarer Erzähler, und sein Bezug zu Bands, dem WG-Leben und den Drogenerfahrungen tauchen regelmäßig in seinen Büchern auf. Hier trifft er wortwörtlich den Nagel auf den Kopf und liefert ein außergewöhnliches Werk ab. Besonders die Liebesszene im Schrebergarten zu „November Rain“ in Endlosschleife überzeugt mit großen Gefühlen, Humor und Erzählkunst. Der Titel bezieht sich darauf, dass Herzen im Laufe der Zeit voneinander abfallen, sich voneinander trennen und doch ein Rest zurückbleibt. Diese Geschichte ist damit alles andere als Trash und lässt poshe Herzen mit Sicherheit höherschlagen.

Die Geschichte fühlt sich an wie Pogo bei einem Konzert von Bands wie Dackelblut oder Knochenfabrik: knallhart, dreckig – und trotzdem kommt der Spaßfaktor nie zu kurz. Würden wir (wieder einmal) einen Soundtrack zu diesem Roman zusammenstellen, empfehlen wir Bands wie die schönen Tomte, die schnellen Pascow, die hippen Turbostaat, die großen Kettcar und natürlich die unvergesslichen Muff Potter als musikalische Untermalung. Und noch ein netter Spruch (aus dem Buch) zum Schluss: „Pommes gut – alles gut!“

In diesem Sinne: gutes Buch… lesen!

Foto und Rezension: aL

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