Cordula Simon: “Mondkälber”. Roman. Septime Verlag: Wien 2024. 168 Seiten.
Es ist, als würden die beiden Monde, die in Cordula Simons neuem Roman „Mondkälber“ am Himmel auftauchen, kalben wie die Gletscher, und die abfallenden Brocken entfalten ihre surreale Schwerkraft in einer durch und durch somnambulen Welt. „… in dieser Nacht träumte ich, dass ich in einem riesenhaften Kaleidoskop gefangen war, und jemand, etwas, wovon ich nur ein großes Auge erkennen konnte, blickte durch die Linse und drehte mich, bis ich bunte Glasscheiben erbracht“, heißt an einer Stelle des Buches, das als Bericht der namenlosen Ich-Erzählerin angelegt ist. Die bunten Glasscherben, das sind die insgesamt 38 Abschnitte des Romans.
Die Erzählerin lebt gemeinsam mit ihren Kommilitonen Irina, einer Bildhauerin, und dem Theatermann / Revolutionär Jevgenij sowie der Katze Oskar in einem unergründlichen alten Haus, das in einer mythischen slawischen Landschaft am Rande einer Stadt angesiedelt ist. Als zwei Monde am Himmel erscheinen, werden die Gesetze der Realität nach und nach ausgehebelt. [Daran ändern auch die immer wieder in eckigen Klammern eingeschobenen Erläuterungen eines gewissen Dr. Weintraub nichts, der den Bericht der Ich-Erzählerin kommentiert.]
Ein Heckenschütze bedroht die Stadtbewohner, ein indisches Kind taucht kurz auf und verschwindet bald wieder, es gibt Theaterabende im Haus, die von Irina und Jevgenij bestritten werden, und wer oder was immer vom Wasser des Brunnens hinterm Haus berührt wird, erstarrt zu Stein. Je weiter man liest, umso mehr stellt sich der Eindruck ein, man wäre in einem Bild von Marc Chagall gefangen und könnte aus diesem Traum, der langsam zum Alptraum mutiert, nicht mehr aufwachen.
Dass Cordula Simons surreales Romantableau mehr mit unserer Welt zu tun hat, als es auf den ersten Eindruck den Anschein hat, wird gegen Ende offenkundig, wenn im nachtwandlerischen Ambiente ein Krieg ausbricht, der von Ferne an den Angriff Russlands auf die Ukraine erinnert. „Mich macht der Krieg bescheiden“, schreibt die Ich-Erzählerin, „ich wollte nur meine Träume wieder. Ich war gerne ein Kind meiner Zeit gewesen. Die Zeit, in der man an unheilbaren Frieden glauben durfte.”
Immer wieder tauchen solch kleine sprachlichen Widerhaken wie der „unheilbare Frieden“ in Simons poetischer Parabel auf eine aus den Fugen geratene Welt auf. Das Buch der Grazer Autorin ist voll dunkel schimmernder Bilderwelten, die den Wirklichkeitssinn weit hinter sich lassen. Wer bei diesem Roman eine Fabel oder luzide Geschichte erwartet, wird enttäuscht sein. „Mondkälber“ ist vielmehr ein traumhafter Bilderfluss aus beunruhigenden Zeiten, denen selbst mit dem wackersten Realismus kaum mehr beizukommen ist.
Bild und Text: Werner Schandor