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Technobuch des Monats

Marie-Luise Wolff: “Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung”, Westend Verlag 2020

Die Autorin ist Vorstandschefin eines großen deutschen Energieversorgers, war über Jahrzehnte an wichtigen Schalthebeln der Industrie positioniert, sitzt in diversen hochrangigen Gremien, ursprünglich aber studierte sie Anglistik und Musikwissenschaft. Das erklärt vielleicht die deutlich ablehnende Haltung, die sie zum Thema entwickelte. Vorweg sei auch gesagt: Es ist ein sehr ernstes, sehr bemühtes, sehr “deutsches” Buch, voller Skepsis gegenüber den Technologien, die da aus den USA oder aus Asien auf uns zukommen. “Eine Gewinnwarnung für das Digitale” nennt Wolff ihre Haltung und das sagt viel über ihre Mission.

Googeln wir mal “Pharisäer”

Wie die meisten Mahner*innen der Gegenwart ist Wolff dabei leider ein klein wenig inkonsequent. Zum Beispiel: Die Macht der digitalen Monopole anprangern, die Praktiken von Amazon über viele Seiten hinweg explizit kritisieren, aber das eigene Buch dann doch über diese Plattform verkaufen. Geht irgendwie gar nicht.

Außerdem glaubt man der Chefin eines Energiekonzerns halt nur sehr bedingt, wenn sie von nachhaltigen Unternehmen und ihrer sozialen Wirkung schwärmt und den Stromverbrauch der digitalen Tools oder das Shareholder-Value-Denken beklagt.

Dabei hat sie natürlich nicht unrecht. Wir sind von unseren Smartphones abhängig, haben die Kontrolle über Kanäle wie Facebook längst verloren. Unsere Mitmenschen interessieren uns nur bis zur nächsten “Notification”, die alarmierend aufpoppt. “Digitale” Unternehmen wie Tesla können Verluste in Milliardenhöhe schreiben und doch werden sie von der Börse geliebt. Und Corona hat alles noch schlimmer gemacht.

Was tun?

Wolff will die Realwirtschaft retten, der Entwicklung eine “europäische” Perspektive geben, sie will weg von “digitalen Spielzeugen” hin zu einer echten Problemlösung. Aber: An dieser Stelle wären nun Antworten gefragt, nicht nur die Nennung längst bekannter Defizite und Probleme. So sind wir auf Seite 50, später auf Seite 100, dann auf 150 – und wir haben lediglich eine Menge Klagen und Kritik gelesen, nichts davon ist allerdings rasend neu. Wirklich spannend wird das Buch erst gegen Ende hin. Zuerst mit der Diskussion der Psychologen Kahnemann vs. Gigerenzer über menschliche Entscheidungsprozesse (“System 1” und “System 2”). Und dann mit der ausführlichen Darstellung des chinesischen “Sozialpunktesystems”, das auch ohne die Verknüpfung mit der Digitalisierung der blanke Horror ist.

Ebenfalls nicht unspannend ist das Kapitel 5 und hier vor allem die Auseinandersetzung mit Google, seinen internen Kritikern und seinem Diversity Management. Hier bleibt die Autorin allerdings in ihrem Urteil vage, gibt auch offen zu, dass sie im Lauf der Jahre mehrmals ihre Meinung änderte.

Es geht aber auch entschlossener. Beim viel diskutierten bedingungslosen Grundeinkommen etwa, wo Wolff geradezu in Rage gerät. Überraschendes Argument: Das hilft ja nur den Digitalkonzernen, die uns zu willenlosen Konsument*innen machen wollen.

Es gibt nichts Gutes…

Ein wenig erstaunlich ist übrigens auch, dass Wolff keine Punkte nennt, die FÜR digitale Produkte sprechen. Gibt es wirklich gar keinen Nutzen, den wir aus der Technologie ziehen können? Dann, meine Damen und Herren, sind wir aber gewaltig in der Bredouille.

Und damit kommen wir zur entscheidenden Frage: Was ist denn nun die Alternative zum Digitalen, wie hätten wir es denn lieber? Die Autorin sagt an einer Stelle, sie würde einfach gern in einen altmodischen kleinen Laden gehen, sich drei Produkte zeigen lassen und dann eines aussuchen. Na dann aber pronto auf in die Stadt. Noch gibt es diese Geschäfte sehr wohl und viele mehrheitlich junge Menschen versuchten gerade vor der Pandemie mit neuen – zum Beispiel verpackungsfreien – Läden zu reüssieren. Es zwingt uns niemand dazu, Amazon zu nutzen, auf Facebook unsere Zeit zu vergeuden.

Wenn man die digitalen Weltherrscher kritisiert, braucht man heute schon auch ein Gegenmodell, das über Nostalgie oder ein paar nett gemeinte Empfehlungen am Ende des Buches hinausgeht. Mehr als “legen Sie Ihr Smartphone beim Essen weg” oder “die Speicherung privater Daten ist zu verbieten” ist hier leider nicht zu lesen. Aber gut, die Grundsatzdiskussion hat Wolff aus einer Ecke angefeuert, aus der das nicht zu erwarten war, und vielleicht lesen ja zumindest ein paar Vorstandskolleg*innen das Buch. Schließlich hat es auf dem bösen Shopping-Kanal Amazon ja reihenweise 4-5 Sterne Bewertungen bekommen…

 

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