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#Rassismuserfahrung

Ja gibt’s in diesem verdammten Deutschland nur Rassisten auf der Straße und im Alltag? Sind die Lehrer in den Schulen allesamt so daneben, dass sie für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nichts als unverhohlene Verachtung übrighaben? Muss die deutsch-türkische Bloggerin und Publizistin Kübra Gümüsay erst nach England fahren, um mit Leuten, die sie kennenlernt, einfach über das Wetter, ihre Hobbys oder ihre Lieblingsfilme plaudern zu können – anstatt wie in Deutschland immer nur über ihre Herkunftsfamilie, ihren Glauben und vor allem ihr Kopftuch, ihr Kopftuch, ihr Kopftuch?

In ihrem Buch „Sprache und Sein“ – einem 200 Seiten langen, literarisch verbrämten Essay – lädt die 1988 in Hamburg geborene Autorin tonnenweise Erfahrungen vom Ausgegrenzt- und Verachtetwerden ab, die Migranten in Deutschland (und wohl auch hierzulande) täglich machen müssen. Gümüsay führt diese Erfahrungen darauf zurück, dass alle, die anders ausschauen, sich anders kleiden und anders reden als die autochthonen Deutschen, von diesen in einen Topf geworfen werden, d. h. pauschal als Fremde kategorisiert und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden würden. Das schmerzt, dagegen wehrt sie sich, dagegen wirft Gümüsay ihre ureigene Wahrnehmung als muslimische Intellektuelle in die Waagschale und ringt um die Anerkennung ihrer Individualität. Doch im Gegenzug begeht die Autorin durchwegs denselben Fehler, den sie den deutschen Ureinwohnern ankreidet; auch sie differenziert nicht, sondern dichotomisiert: Hier die stets leidgeprüften Zuwandererkinder, da die allesamt privilegierten Ortsansässigen, die von der AfD vor sich hergetrieben werden und ihre Herzen vor den Anderen verschlossen haben.

Bei aller Empathie für die Betroffenen: Das Wissen um komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge und feine Unterschiede war im linken Milieu der Bundesrepublik schon einmal ausgeprägter. Die US-Denkimporte Gender-Studies und postkolonialistischer Diskurs haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Perspektive auf die konstruierten Gegensatzpaare Frau (& *andere) vs. Mann sowie deutsche Ureinwohner vs. Zugereiste zu verengen. (Letzteres zwar unter umgekehrten Vorzeichen, aber dennoch in bemerkenswerter Übereinstimmung mit der rechtspopulistischen Propaganda.) Was dabei völlig aus dem Blick geriet, sind die sozioökonomischen Verwerfungen, die ihr Kräftespiel innerhalb der deutschen Gesellschaft wieder neu entfaltet haben. Dabei bildet die wirtschaftliche Entwicklung – und damit einhergehend die Angst der mittleren bis unteren Einkommensschichten, vom Wohlstand ausgeschlossen und gesellschaftlich abgehängt zu werden – seit rund 20 Jahren den Nährboden für den massiv wiederkehrenden Rassismus in Deutschland. Das betrifft besonders den wirtschaftlich ausgezehrten Osten. Von diesen Zusammenhängen liest man allerdings bei Kübra Gümüsay kein Wort. Sie verharrt bei ihrer migrantisch-feministischen Nabelschau und bevorzugt es, sich für erlittene Ohnmachtserfahrungen mit immer wieder eingestreuten kleinen Schmähungen des „alten weißen Mannes“ zu revanchieren. Jeder braucht so sein Feindbild.

Zu allem Überfluss knüpft sie ihre Erfahrungen an die Überzeugung, irgendwie sei auch die Sprache an der rassistischen Misere schuld – die deutsche nämlich. Wäre die nicht so weiß, so deutsch und männerorientiert (generisches Maskulinum! Schnell 1.000 Gender*sternchen dagegengesetzt!), wäre die Welt ein besserer Ort. Leider lässt dieses grundnaive Narrativ, das sich auf methodisch unzulängliche Studien der Linguistik, auf intuitives Sprachempfinden und ganz viel Betroffenheit beruft, die Errungenschaften der Aufklärung weit hinter sich.

Als Stimmungsbild all jener, die ausgegrenzt, beschimpft und angefeindet werden, ist „Sprache und Sein“ ebenso brisant wie aufrüttelnd. Als sprachphilosophische Abhandlung, unter dessen Flagge der Essay durch seinen aufs Ganze gehenden Titel segelt, aber völlig unbrauchbar. Gümüsay suggeriert im Anfangskapitel, man könne den Widerschein des Mondlichts auf dem nächtlich ruhig daliegenden Meer nicht wirklich wahrnehmen, wenn man das türkische Wort dafür, Yakamoz, nicht kenne. Oder umgekehrt: Keiner außerhalb des deutschen Sprachraumes könne hämische Genugtuung empfinden, wenn ein Großmaul auf die Schnauze fällt, weil es in anderen Sprachen kein Wort für Schadenfreude gibt. – Im Ernst?

Doch wie sehr prägt Sprache die Wahrnehmung, und wie sehr prägt die Wahrnehmung unser Tun wirklich? Der große Irrtum der politischen Korrekturbestrebungen besteht darin, die auf vielen Ebenen vernetzten Wechselwirkungen zwischen Sprache, Wahrnehmung und Tun eindimensional in Kausalzusammenhänge zu zwängen. Aber derart mechanisch funktioniert das menschliche Bewusstsein nicht. Das scheint auch Gümüsay zu erkennen, denn sie schlägt nicht vor, die Grammatik zu ändern und einzelne Begriffe aus dem Wortschatz zu streichen, um den ersehnten Kulturwandel in Deutschland herbeizuführen. Sondern sie plädiert am Ende für das offene, interkulturelle Gespräch auf Augenhöhe, das diesen Wandel anstoßen soll. – Ein sozialpädagogischer Dauersitzkreis quasi. Im Ernst.

Besser, der Verlag hätte den hochtrabenden Titel „Sprache und Sein“ gemieden und das Buch zum Beispiel „Wie ich vom Alltagsrassismus in Deutschland betroffen bin und meine, es hilft, miteinander darüber zu reden“ genannt. Das würde dem Social-Media- und Talkshow-geeichten Duktus des Textes besser gerecht und brächte letztlich auch deutlicher den Charakter der wortgewandten Sonntagspredigt zum Ausdruck, in den die letzten Kapitel münden. Intellektuell ist das eher unterwältigend. Und politisch? – Was der medientaugliche Erfahrungsaustausch unter Betroffenen bringen könnte: Fette Quote und vielleicht ein paar Aha-Erlebnisse für Leute, denen es gleich geht. Aber strukturell sehr wenig.

Werner Schandor

 

Kübra Gümüsay: Sprache und Sein. Carl Hanser: Berlin 2020. 208 Seiten.
www.hanser-literaturverlage.de

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