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David Lynch und Kristine McKenna: „Traumwelten – Ein Leben“. Verlag Heyne Encore

„Mütter in Hemdblusenkleidern aus Baumwolle, die lächelnd den frisch gebackenen Kuchen aus dem Ofen ziehen, breitschultrige Väter in Sporthemden beim Grillen im Garten oder in Anzügen auf dem Weg ins Büro; die allgegenwärtigen Zigaretten – in den Fünfzigern rauchte jeder; der klassische Rock´n´Roll; Kellnerinnen im Diner mit kleinen Häubchen auf dem Kopf, Mädchen mit Kniestrümpfen und Schnallenschuhen, Pullovern mit karierten Faltenröcken – all das gehört zum ästhetischen Vokabular von David Lynch. Das wichtigste Merkmal dieser Epoche aber, das er sich erhalten hat, ist der Geist der Zeit: Die glänzende Fassade von Unschuld und Tugend, die dunklen Kräfte, die darunter lauern, und die verdeckte Laszivität, die diese Jahre erfüllte – all das sind die Eckpunkte seiner Kunst“

So beschreibt Kristine McKenna eindrücklich die Kinder- und Jugenderinnerungen eines der visionärsten lebenden Künstler unserer Zeit: David Lynch. Gerade diese vorgegaukelte heile Welt, unter deren Deckmantel die pulsierende Gewalt wartet, wird später in seinen Filmen (z.B. Blue Velvet oder Twin Peaks) immer wieder auftauchen. David Lynch ist nicht nur Schöpfer von Streifen wie „Eraserhead“ und „Elefantenmensch“ bzw. Mastermind hinter „Twin Peaks“, „Wild at Heart“ oder „Mulholland Drive“, sondern auch Fotograf, Möbeldesigner, Schauspieler, Kunstmaler, Vater und neben Kristine McKenna auch Autor dieser Biografie und seiner eigenen Memoiren.


Außer Streit steht, dass seine Filmwerke inzwischen Kult sind und sein Gesamtwerk quasi unantastbar ist. Auf über 700 Seiten werden unzählige Schauspieler, Wegbegleiter und Freunde ob ihrer Erfahrungen und Anekdoten zu Lynch befragt; McKenna ermöglicht somit tiefe Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt von Lynch. Im Anschluss an dieses Kapitel von McKenna eröffnet der „Meister“ selbst seine Sichtweise und Erinnerungen. Grundsätzlich ist dieses Konzept des Dialoges zwischen McKenna und Lynch gut und interessant – in der Praxis sind hier jedoch leider öfters verdoppelte Monologe entstanden. Diese Tatsache wirkt aufgrund der Länge des Werks für die Leserschaft dann doch ermüdend.

Ein großer Pluspunkt des Buches „Traumwelten – Ein Leben“ ist: Es erzwingt nichts. Man kauft David Lynch ab, dass er in seinem Leben vom Kunststudenten zum preisgekrönten Regisseur viele Kämpfe gefochten hat und unzählige Niederlagen einstecken musste. Mögen dem Buch gegebenenfalls stilistisch eigensinnige Alleinerkennungsmerkmale, für die Lynch ansonsten immer gut ist, fehlen, so entpuppt sich die Autobiografie andererseits nicht nur qualitativ als konsistent, sondern auch permanent auf souveränem, unterhaltsamem Niveau. Kristine McKenna taucht im vorliegenden Werk in die tiefsten Materien und Denkstrategien Lynchs und seiner verstörend schönen Filmwelten ein.

Eine kritische Bestandsaufnahme sucht man vergebens – und literarisch bleibt man oberflächlich. Trotzdem nutzt dieses Buch das Momentum und überrascht durch interessante Hintergrundinformationen und Details zu Lynchs Werk und Leben. Das Autoren-Duo konstruiert somit zusammenfassend einen vor Details strotzenden Mikrokosmos, der mit reichhaltig einverleibten Querverweisen einen in sich geschlossenen Fluss hervorbringt.

Mit dieser eingefangenen Wahrnehmung, der erzeugten Stimmung durch verschiedene Epochen und dem transportierten Begehren erreichen diese 700 Seiten Lebenserinnerungen mehr als viele andere Autobiografien. Lynch/McKenna beschreiben in diesem Buch nicht nur Erlebtes, sondern auch Antagonismen des Regisseurs wie Liebe und Erotik oder Licht und Schatten. Spätestens, wenn beim Friedensgruß auf der letzten Seite doch noch einmal alle Stärken von David Lynch gebündelt, ausgewalzt und offengelegt werden, wird die immanente Klasse dieses Künstlers präsent. Früher meinte man „kafkaesk“ – heute sagt man „lynchesk“. In diesem Sinne: Schönen Sommer noch – ich bin dann mal (wieder) in Twin Peaks.

Wort & Bild: aL August 2018


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