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Roman des Monats: Flammenwerfer

 

Flammenwerfer von Rachel Kushner, Rowohlt Verlag 2015
 „Ich war wieder allein, so wie in der ersten Zeit in New York, aber es war ein anderes Alleinsein. Vieles war geschehen. Ich war mit Sandro in den Gärten der Villa Valera in Bellagio unter Platanen spazieren gegangen. Ich hatte versucht, unter einem Fresko von ertrinkenden Päpsten ungenießbares Brot zu kaufen. Ich wusste, wie es sich anfühlte, mit Tränengas angegriffen zu werden. Drei verschiedene Männer hatten mich in ihren Bannkreis gezogen, Ronnie, Sandro und Gianni, sowie eine Frau, Giddle, und es schien sich gezeigt zu haben, dass ich über keinen von ihnen etwas wusste. Ich besaß ein Motorrad und fuhr damit durch die ganze Stadt. Es war nicht nur ein Beförderungsmittel, sondern Erfahrung. Ich war ein Mädchen auf einem Motorrad“, schreibt Schriftstellerin Rachel Kushner in ihrem wilden und intellektuellen Zweitwerk  „Flammenwerfer“ über ihre Protagonistin Reno (= Spitzname, weil dort geboren).

 

Autorin Kushner stammt aus New York, verbrachte ihre Jugend wahlweise im Wohnwagen oder in San Francisco und ging mit achtzehn Jahren als Austauschstudentin nach Florenz. Ähnlichkeiten zu Reno in „Flammenwerfer“ sind kein Zufall und schaden dem Buch in keiner Weise. Behandelt Kushners Debütroman „Telex from Cuba“ (2008) die Herausforderungen unterschiedlichster US-amerikanischer Familien auf Kuba während der Revolution, zeigt „Flammerwerfer“ (2013) den Evolutionsprozess der Schriftstellerin deutlich auf und führt ihr Werk in aller Leichtigkeit auf die nächste logische Ebene. Leser, Kritiker und Kollegenschaft (von Jonathan Franzen bis Colum McCann) sind sich einig und beschreiben Kushners Zweitwerk als einen modernen, fantastischen, politischen, feministischen, europäischen wie auch amerikanischen Roman.

 

Rachel Kushner nimmt sich in „Flammenwerfer“ trotz ungebändigter New Yorker Kunst-Szene in den wilden 1970ern und Italo-Machogehabe a lá Pirelli-Kalender für ihre Hauptdarstellerin Reno Zeit, um innezuhalten und durchzuatmen. Trotz Geschwindigkeitsrekordversuch auf den großen Salzseen von Utah, Streiks und Straßenkämpfen in Italien und der kreativ explodierenden Künstlerszene SoHos nimmt Reno vermehrt den melancholischen Konterpart in der Geschichte ein und philosophiert über die wahre Liebe.

 

In Renos Welt, in der die Grenzen zwischen Leben und Kunst verschwimmen, trifft sie auf Träumer, Revoluzzer und Phantasten. Eine grandiose junge Frau ist umgeben von feurigen Charakteren und komplexen Figuren. Kunst-Rockerin trifft Minimal-Art-Künstler mit italienischen Wurzeln und Familiengeschichte, die parallel als weiterer Handlungsstrang geführt wird. Mutig werden hierbei Gender-Mythen gesprengt und aktuelle Ereignisse wie die internationale Occupy-Bewegung in die Geschichte der „flammenwerfenden“ Kunststudentin eingebunden. Zusätzlich zum anarcho-anmutenden Cover sind auch Schwarzweißfotos im Buch zu sehen – ein Faible für Kitsch, Geschichte und Kunstfotografie runden das Gesamtwerk bildlich wunderbar ab. Gerade die Bilderserie im Anhang zeigt nochmals deutlich die gedankenvolle Empathie des Werks und der Autorin.

 

 „Flammenwerfer“ ist ein wagemutiger Gesellschaftsroman und wirft gleichzeitig eine Nebelgranate auf die New Yorker Kunstszene und auf den italienischen Untergrund der 1970er Jahre. Rachel Kushner tritt das Gaspedal bis auf Anschlag und zeigt aufgrund ihres Fingerspitzengefühls, wie sicher sie eine rasante Geschichte steuern kann. Hier gibt sie Vollgas und liefert ein außergewöhnliches Werk ab. Spätestens wenn beim Nachwort auf Seite 541 noch einmal alle Stärken gebündelt, ausgewalzt und offengelegt werden, dann wird die immanente Klasse dieses Werks offensichtlich. Es setzt damit neue Standards in der zeitgenössischen Prosa.

 

 

Text und Foto: Haubentaucher-Literatur-Redakteur aL

 

 

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