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Geschichtsbuch des Monats

Ernst Hausner: Eine Biedermeiderelegie. Der Prozess gegen den Fürsten Aloys von Kaunitz, Szenen aus einem traurigen Lustspiel. Edition Hausner 2025

In einer Zeit wie der unseren, in der es schwer fällt, selbst populäre Themen in Buchform auf den Markt zu bringen, ist dieses Werk ein Projekt, das Bewunderung und Erstaunen zugleich hervorruft. Ernst Hausner hat über 1.000 Seiten zusammengestellt aus historischen Beschreibungen der fraglichen Zeit, aus Protokollen, Gemälden und zeitgenössischen Berichten. Thema ist primär das lasterhafte, ja verbrecherische Leben des Fürsten Kaunitz und seiner Umgebung. Lustig ist daran gar nichts, schockierend sehr viel mehr. Denn was die angeblich so feinen Herrschaften da treiben, das ist in heutiger Diktion sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Pädophilie und dergleichen mehr. Da gibt es auch nichts zu relativieren, wie es nicht nur Zeitzeugen immer wieder versuchten, sondern auch ansatzweise die eine oder andere Passage im Buch.

Ein Ballett für Pädophile?

Der Prozess gegen Kaunitz macht evident, dass Kinder teilweise sogar von ihren Eltern für diese abscheulichen Handlungen übergeben wurden. Dahinter stecken soziale Missstände, die jeder Beschreibung spotten. Rund 200 Fälle von Kindesmissbrauch wurden beim Prozess behandelt. Das Wiener „Kinderballett“, das bei all dem eine wichtige Rolle spielt, wird im Zuge des Skandals aufgelöst. Während im Ausland die offensichtliche Sexsucht und Pädophilie von Kaunitz schon klar erkannt wird, tut man in Wien weiter so, als sei nichts geschehen. In einem Brief schreibt Metternach an seine Geliebte, sein Vetter Kaunitz sei so klug, nur leide er bedauerlicherweise an einer Krankheit und hätte deshalb pro Tag „drei, vier, fünf und sogar sechs Frauen“ gehabt. Jetzt sei der Arme restlos erschöpft und brauche „strengste Enthaltsamkeit“. Lange wird diese nicht gehalten haben. Und aus den Frauen wurden Kinder.

Hausner macht nun einerseits deutlich, wie wild die Sitten im adeligen und gutbürgerlichen Wien rund um den Fürsten und manche Mitwisserinnen und Mittäter waren. Andererseits kann sich der Autor nicht davon lösen, in all dem eine Art theatralische Aufführung zu sehen. Das Buch beginnt freilich zuallerst mit einer intensiven historischen Einordnung, die alleine schon die Lektüre lohnt.

Der doppelte Kaiser Franz

Wir schreiben die Zeit von Kaiser Franz, je nach Klassifizierung der II. oder der I., der von 1768 bis 1835 lebte. Die Habsburger waren damals das mächtigste Königshaus weit und breit und zugleich selbst eine tragikomische Angelegenheit. Hatten sie doch so lange in ihrem engsten Familienumfeld geheiratet, bis eine genetische Katastrophe nicht mehr zu verleugnen war. Viele ihrer Kinder starben früh, andere waren schwer behindert. Zu den Problemen, die Franz zu bewältigen hatte, zählte vor allem auch der kriegerische Napoleon, der es immer wieder von Neuem wissen wollte. Im Gegensatz zu seinem Onkel Joseph II., der als Reformer in die Geschichte einging, war Franz darauf bedacht, zu erhalten, was noch zu erhalten war. Er konnte sich kaum gegen Metternich behaupten, seine Truppen verloren immer wieder entscheidende Schlachten gegen Napoleon und Franz interessierte sich bei all dem eigentlich viel mehr für die Natur als für die Politik. Er war einer, der das Biedermeiertum wie kein zweiter lebte, durchaus absurd für einen doppelten Kaiser. Er sammelte manisch Bücher und Porträts. Seine zweite Frau, Maria Theresia von Neapel-Sizilien, brachte in siebzehn Ehejahren nicht weniger als zwölf Kinder zur Welt.

In die Amtszeit von Franz fällt auch der Prozess gegen Aloys von Kaunitz im Jahre 1822. Und dieses Verfahren wird im Buch minutiös offengelegt. Wer in Hausners Werk die Niederschriften der Verhöre liest, erkennt eine Justiz, die von Opfer- und Datenschutz noch nie gehört hat. Das Gericht müsste eigentlich aufgrund der vielen Aussagen in der Lage sein, zu erkennen, wie schlimm es der Fürst getrieben hat. Statt dessen merkt man – und darauf weist Hausner klar hin – dass gegenüber dem „Hochadeligen“ nach wie vor Respekt und Toleranz zum Ausdruck gebracht wird. Die Eltern, die ihre Kinder mit „Nutzungs-Verträgen“ dem Täter überlassen haben, und die Kinder selbst werden so als „mitschuldig“ dargestellt. Der Adelige hingegen sei quasi „verführt“ worden. Metternich versucht sogar, einen Freispruch für Kaunitz zu erwirken. Das freilich geht selbst dem stockkonservativen Kaiser zu weit. Der Fürst wird nach Mähren verbannt. Das hält Franz nicht davon ab, ihm später noch den Titel „Durchlaucht“ zu verleihen.

Der hervorragende Pleitier

Da Kaunitz nicht nur seine Libido keineswegs unter Kontrolle hatte, sondern auch seine Finanzen, verkauft oder verschleudert er große Teile seines beachtlichen Vermögens. 1824 wird ein Schuldenausgleichsverfahren begonnen, das erst fünf Jahre später abgeschlossen werden kann. Kaunitz ist in späteren Jahren de facto mittellos. Der Gerichtsakt bleibt lange Jahre gesperrt. Im Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich von Constantin von Wurzbach wird Kaunitz nach seinem Tod weiter als „hervorragender Sproß“ seiner Familie bezeichnet.

Ernst Hausers gewaltiges Buch ist keine Lektüre, die sich so nebenbei bewältigen lässt. Man wird vielleicht auch gar nicht alle Protokolle lesen wollen. In Summe aber ist das ein hochspannendes Sittengemälde einer Zeit, die in massivem Umbruch war. Soziale Ungleichheit und politisch-militärische Turbulenzen erleichterten dem Fürsten seine Untaten. Und so ist die prachtvoll gestaltete „Biedermeierelegie“ auch ein Must-Have für geschichtlich und juristisch Interessierte.

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