Kalb/Olechowski/Ziegerhofer (Hrsg.): “Der Vertrag von St. Germain”, Manz Verlag 2024
“Lernen Sie Geschichte”, der klassische Satz von Bruno Kreisky hat auch angesichts der aktuellen EU-Wahlen nichts an Bedeutung verloren. Ein entscheidendes Kapitel der heimischen Historie war der Staatsvertrag von St. Germain, der im September 1919 zwischen Österreich und den alliierten “Hauptmächten” sowie assoziierten Staaten abgeschlossen wurde. Dieser umfangreiche und für Laien nicht gerade einfach zu lesende Text wird nun erstmals nicht von Historiker:innen näher unter die Lupe genommen, sondern von einem äußerst renommierten Team an Juristinnen und Juristen.
Gewichtig
Mit rund 800 Seiten ist das ganze ein Opus Magnum und dementsprechend hat es seinen Preis. Es ist allerdings nicht nur für juristisch Interessierte ein “Must-have”, sondern auch für Menschen, die aus verschiedensten Gründen mehr über den Vertrag und seine Hintergründe erfahren wollen. In den umfangreichen Kommentaren zu den einzelnen Bestimmungen lernt man nämlich sehr wohl auch Geschichte. Etwa, was mit der einen oder anderen schwer verständlichen Formulierung gemeint war, worauf Bezug genommen wurde. Es wird auch deutlich, wie facettenreich der Vertragstext ist, was alles geregelt werden sollte. Kein Wunder, ein – nach Eigendefinition – Weltreich wurde massiv geschrumpft. Reparationszahlungen, Bestimmungen über die militärischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. der Umgang mit Kriegsgefangenen, all das musste geregelt werden.
Da der Vertrag von St. Germain aber natürlich nicht vom Himmel fiel, widmet sich das Autor:innenteam auch der Vorgeschichte, etwa den ersten Verhandlungen unmittelbar nach Kriegsende in Italien und dem Friedensvertrag von Versailles mit Deutschland. Hier geht das Buch weit über juristische Belange hinaus und schildert etwa, wie kontrovers der Vertrag in Deutschland aufgenommen wird, welche Folgen er hatte.
Auch wenn wohl kaum jemand außer ausgewiesenen Spezialist:innen das gesamte Werk durchlesen wird, es ist lohnenswert, gezielt nach Einzelheiten zu suchen. Nur ein Beispiel: Die Flugplätze, die schon vor dem 1. Weltkrieg bestanden, wurden unterschiedlich behandelt. So gelangte der Flughafen Graz-Thalerhof etwa ab 1924 in den Besitz der Republik und verlor peu á peu seine militärische Bedeutung. Auch auf die Schifffahrt hatte der Vertrag seine Wirkung, die Donau wurde teilweise zum internationalen Gewässer erklärt. Österreich durfte regelmäßige Schiffsverbindungen mit manchen Ländern nur mit deren ausdrücklicher Genehmigung etablieren.
Ein Schatz
Das Buch ist eine wahre Schatztruhe voller historischer und juristischer Details. Am Rande erfährt man sogar etwas über die Thronfolge in Monaco. Als Zielgruppe kommen daher nicht nur Jurist:innen in Frage, sondern auch Lehrer:innen, Geschichtsinteressierte und viele andere. Und schon klar: In der Anwaltskanzlei macht sich so ein Buch auch ausgesprochen gut. Selbst für künftige kultivierte Partygespräche lohnt sich die Lektüre.