Cheon Myeong-kwan:
“Der Wal”
Aus dem Koreanischen von Matthias Augustin und Kyunghee Park. Weissbooks 2022
Wichtig zu wissen: Dieser Wal hat nichts mit dem gleichnamigen Film zu tun, der bei diversen Festivals der jüngsten Zeit reüssierte. Dieser Wal ist die epische Geschichte von Kūmbok, einer Frau, deren Leben alles an Überraschungen bietet, was man sich (nicht) vorstellen kann. Große Liebe und bittere Armut, exotische Tiere, Schicksalsschläge, heftiger Sex, Mord und Totschlag und der Aufstieg zu unermesslichem Reichtum. Verrat und Gefühlskälte. Und gegen Ende hin sogar ein Wechsel des Geschlechts.
Kūmbok ist eine Figur, wie sie uns in den großen Erzählungen aus allen Kulturen der Welt begegnen könnte. Aus “Tausendundeiner Nacht”, wie der Regisseur Jang Jin meinte. Oder aus einem Roman von García Márquez. Freilich: Kūmbok ist in diesem Jahrhundertroman nicht allein. Neben allen möglichen illustren und finstren Gestalten, Fischhändlern, Prostitutierten, Händlern und Hexen, prägen drei Personen ihr Leben besonders:
John Wayne, Mun und Ch’unhūi.
Der Westernstar bezaubert Kūmbok im Kino, das sie auf Anhieb und wortwörtlich bis zu ihrem Tod in seinen Bann zieht. Mun ist ein treuer Lebens-Gefährte, der alle Eskapaden von Kūmbok tapfer erträgt und ihr zu einer eigenen Fabrik verhilft. Diese wird Beginn und Ende des Romans darstellen, sie wird viele Arbeitsplätze schaffen und viele neue Häuser ermöglichen. Und sie wird die einzig verbliebene Arbeiterin letztlich zu einer Legende machen.
Damit sind wir bei Ch’unhūi, Kūmboks Tochter. Riesenhaft, bärenstark, stumm. Reich an Instinkten, wenn auch nicht an Intellekt. Sie ist es, die am Ende mutterseelenallein Ziegel auf Ziegel schlichtet, die sie zuvor kunstvoll fabriziert hat. Dieser riesige Mensch mit der zarten Seele, der für einen Massenmord büßen muss, ist neben ihrer Mutter die tragende Säule der Handlung.
Der Wal ist so koreanisch, wie sich das unsereins vorstellen kann. Die Farben und Gerüche, die rasante Handlung und die enthemmte Brutalität, wie man sie aus den großen Filmen und Serien der letzten Jahre kennt, sie begegnen uns in diesem Roman wieder. Nach über 500 Seiten ist man traurig, dass es schon zu Ende ist. Es ist indes keine leichte Kost und man tut gut daran, das Buch so weit wie möglich in einem Zug (oder zumindest an mehreren Tagen ohne allzulange Pause) zu lesen. Die Handlung bezieht sich immer wieder auf Geschehnisse aus der Vergangenheit, es wimmelt von skurrilen Figuren. Die Sprache, die poetisch und brachial, wild und humorvoll sein kann, nimmt uns mit auf eine Reise in eine gänzlich fremde Welt.
Der Autor Cheon Myeong-kwan, geschult im Filmbusiness, mischt koreanische (oder generell alle möglichen asiatischen) Motive mit Popkultur. An einigen Stellen gehen ihm fast die Pferde durch bei all der Lust am literarischen Spiel. So heißt es nach dem ersten Drittel: “Spannende Ereignisse sind es, die uns erwarten.” Recht hat er. Der Wal hat sein ganz eigenes Tempo und wenn man sich zwischendurch fragt: Wie soll das nur weitergehen? Cheon Myeong-kwan hat immer eine Antwort.
Am 23. Mai dieses Jahres wird sich zeigen, ob dieses koreanische Meisterwerk tatsächlich den renommierten Booker Prize gewinnen kann. Auf der Shortlist steht “Der Wal” jedenfalls. Im Original erschien das Buch bereits 2004, aber das ist bei einem Jahrhundertbuch wie diesem nebensächlich. Danke an den Verlag, der uns mit einiger Hartnäckigkeit auf die Publikation hingewiesen hat. Es wäre uns ohne diese Lektüre in der Tat etwas Großartiges entgangen.
Für euch da draußen heißt das:
Dringende Kaufempfehlung!