Hans Platzgumer: “Korridorwelt”
Edition Nautilus – Verlag Lutz Schulenburg (2014)
„Menschen jagen sich immer mehr Angst ein als nötig. Sie suchen sie förmlich, die Furcht und Aufregung. Sehnen sich danach, aus der Langeweile aufgeschreckt zu werden, die ihren Alltag erstickt. Sehnen sich nach dem Adrenalinschock, wollen, dass ihnen ab und zu der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Wollen Zeugen von etwas Außergewöhnlichem werden. Doch wenn es tatsächlich passiert, vor ihren Augen passiert, mit ihnen passiert, wenn da plötzlich alles zusammenkracht und sie keine Kontrolle über die Dinge haben, den Spalt hinunterrutschen in das Höhlenlabyrinth, dann werden sie panisch und machen einen Rückzieher. Dann wollen sie den Wunsch nach Veränderung wieder rückgängig machen“, schreibt Hans Platzgumer in seinem Buch „Korridorwelt“ über seinen Protagonisten Julian Oger.
Julian Oger ist ein drastisch gescheiterter Anti-Held auf der Flucht vor sich selbst. Obwohl es Ähnlichkeiten zu Hans Platzgumers Aufenthalt in den USA und seiner Affinität zu Musik in diesem Werk gibt, ist diese Erzählung nicht autobiografisch. Julian vegetiert als Straßenmusiker zwischen traurigem Elend in Motels und Gentrifizierung des Yucca Corridors (Titel!) in L.A. dahin. Wortwörtlich wachgerüttelt durch das Northridge-Beben 1994 ergibt sich Oger tagtäglich dem hoffnungslosen Augenblick und seiner verdrängten Vergangenheit. Einen weiteren markanten Einschnitt im Leben des Protagonisten, der als Konsequenz der Rückschläge und der ewigen Flucht in den letzten 10 Jahren zu werten ist, bildet der Selbstmord seiner Eltern in Linz im Jahre 1984. Er entdeckte als Sechzehnjähriger Mutter und Vater aufgehängt in der gemeinsamen Wohnung. Beide Elementarereignisse wirken auf Julian wie ein tollwütiges Biest – unerbittlich und kompromisslos und bohren ihre Finger ungemütlich und brachial in die offenen Wunden. Diese Erfahrungen treiben den Hauptdarsteller der Geschichte voran, verändern permanent seine Fluchtpunkte und manövrieren ihn durch seine Korridore. Aus seiner inneren Leere, der Vergangenheit und der manischen Verdrängung platzt plötzlich Julian hervor und stellt sich die Sinnfrage seiner Flucht.
Bei Platzgumers Buch handelt es sich nicht um einen Roadmovie- oder klassischen Musikroman, da die verschiedenen Örtlichkeiten (Linz, Wien, Zürich, Paris, Los Angeles und Chile) bzw. die musikalischen Verweise und Zitate (z.B. KingKurt-Konzert in Linz) nur einen Bruchteil darstellen. Stattdessen beschreibt der Autor beeindruckend die Überlebenskunst eines Flüchtenden, die apokalyptische Schönheit eines Gescheiterten und die Herausforderungen eines Künstlers zwischen Monotonie und Existenzängsten. Diese düsteren und traurigen Beschreibungen erzeugen eine epische Faszination.
„Korridorwelt“ orientiert sich folglich an den Stärken von Platzgumer: Er ist ein guter und gefühlsbetonter Erzähler und die Fragen des Lebens tauchen regelmäßig in seinen Büchern auf. Er schreibt brutal, eindringlich und überlegt. Die Geschichte frisst dich und spuckt dich am Ende wieder aus. Gleichzeitig fällt besonders der Bezug zu Österreich (Linz/Wien in den 1980er Jahren) auf. Er verbeugt sich durch seine kritischen Seitenhiebe damit in bester Manier vor Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek.