Kategorien
Romane

Roman des Monats / international

David Guterson: “Der Andere”, erschienen bei dtv
John William tauchte sein Gesicht unter Wasser. Als er wieder hochkam sagte er: „Du tust, was du tun musst, aber mich kriegen sie nicht. Das Leben ist kurz. Die Ewigkeit ist lang. Ich schmuggle mich an Gott vorbei – auch er kriegt mich nicht“. 
„An Gott vorbeischmuggeln?“
„Zu unserer aller Mutter.“
„Das klingt wie Spinnerei.“
„Nein“ sagte John William, „das ist vollkommen vernünftig.“

Dialoge wie diese geben den Protagonisten und der Handlung einer Geschichte Ausdruck und Atmosphäre. Da muss einfach alles passen – sozusagen Kommunikation zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ein Autor kann beweisen, ob er Fingerspitzengefühl besitzt und die Leserschaft berühren kann. David Guterson zeigt nach seinem wunderschönen Debüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ (1994) in seinem Roman „Der Andere“ (2008) erneut großes Einfühlungsvermögen, und seine verbalen Berührungen bleiben nachhaltig spürbar.

Nixon ist Anfang der 1970iger Jahre Präsident, als sich zwei junge Männer bei einem 800-Meter-Lauf kennenlernen. Sie tragen die Haare lang, lassen sich einen Oberlippenbart stehen und teilen eine gemeinsame Vorliebe für Natur, Literatur und Gras(rauchen). Obwohl sie aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen stammen, werden sie Freunde und später sogar „Blutsbrüder“. Frisuren, Bärte und ihre Sehnsucht nach einem freien Leben ändern sich – ihre Freundschaft jedoch bleibt. Während der Erzähler versucht, den „amerikanischen Traum“ mit Job und Familie zu leben, sucht sein depressiver Freund (s)ein pures Amerika in der freien Wildnis. Trotz Unterstützung mit dem Nötigsten, stirbt der Aussteiger nach sieben Jahren in einer Kalkhöhle und hinterlässt seinem bürgerlichen Freund ein millionenschweres Erbe. Assoziationen zu „In die Wildnis“ (die wahre Lebensgeschichte von Christopher McCandless) drängen sich auf. Ob dieses Ableben eine Flucht, ein Unglück oder ein (Selbst-)Mord ist, versucht die zweite Hälfte des Buchs durch Hintergrundgeschichten zu erläutern. Die Todesszene ist eindringlich und sachlich beschrieben und erzeugt erst beim zweiten Lesedurchgang Beklemmung und Gänsehaut.
„Der Andere“ orientiert sich an den Stärken von Guterson. Die Liebe zum Detail – ohne zu übertreiben – und die unzählige Kurzgeschichten um die Haupthandlung, die den Kreis in seinem Schreibstil schließen. Und trotzdem gibt es auch den einen oder anderen schwachen Moment ab der Mitte des Werks. Speziell die Frage der Schuldzuweisung des Unglücks wird zur familiären Vergangenheitsbewältigung. Das klingt freilich wie des Kritikers Jammern auf hohem Niveau – und ist es auch. Denn David Guterson überzeugt in seinem Buch über Jugend, Freundschaft, Idealismus und den Tod durch überraschende Handlungskompositionen.
Seine Naturbeschreibungen des natürlichen Amerikas erinnern an T.C. Boyle („Grün ist die Hoffnung“), Christopher McCandless („In die Wildnis“ bzw. „Into The Wild“) und H.D. Thoreau („Walden“). Insofern empfehlen wir als Soundtrack zum Buch Bruce Springsteen („The Ghost of Tom Joad“, „Nebraska“), Eddie Vedder („Into The Wild“ – Soundtrack) oder Bob Dylan. Bergschuhe an, Rucksack packen, Buch nicht vergessen und raus in den Wald. #outsideisfree
Gastbeitrag von aL

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert