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Musik

Tonträger des Monats Mai / International

And the Golden Choir: “Breaking with habits”, Caroline / Universal

Tobias Sieberts Mama machte sich Sorgen, wie er beim hier vorab völlig zu Recht empfohlenen Konzert im Wiener B72 erzählte. “Junge, was macht diese traurige Musik nur mit dir, die du dauernd hörst?” Gemeint waren Bands wie The Cure, von denen sich Siebert damals nicht nur in Sachen Frisur inspirieren ließ.

Geworden ist aus dem Jungen ein Pop-Paradiesvogel, der im Flamingo-Morgenmantel die Bühne erobert. Der Mann hat eine Stimme, die einen die Zeit und die Welt vergessen lässt. Und sein Faible für ungewöhnliche Instrumentierungen kann man live besonders schön nachvollziehen. Mittlerweile spielt er mit Band, früher kam er mit einem Mikro und einem Plattenspieler angerauscht. Ein Konzert ähnelt durchaus ein wenig dem Orff-Unterricht unserer Kindheit. Allerlei Schlagwerk, ein Hackbrett, dazu aber auch rockige Gitarrensounds. Allerdings ohne Belehrungen, it’s just a pop show, honey!

Die Mutter mag beruhigt sein: Er ist gar nicht traurig, wohl aber zum Meister der Melancholie gereift. Und seine gülden schimmernde Platte? Eine selten schöne Perle im Sumpf des globalen Charts-Einerleis. Einigermaßen erstaunlich, dass sie nicht aus dem Pop-Paradies England kommt, sondern aus Merkelland. Siebert lebt zwischendurch in Berlin, tourt und produziert unermüdlich. Und er hat in seinem Merchandising-Stand nicht nur CDs und LPs eingepackt, sondern auch Wein aus der Mosel, den der Winzer Arns für ihn herstellt. Und jetzt kommt’s: Der ist ebenso fantastisch wie das neue Album. Selbst verkostet. Ehrenwort!

Alexis Taylor: “Beautiful thing”, Domino Records

Mit einer großen Stimme und einem Faible für vielfältige Sounds ist auch Alexis Taylor ausgestattet. Der Brite, der mit Hot Chip Musikgeschichte geschrieben hat, steht für Synthie-Pop, dockt aber auch gerne nahtlos an Dance und Rock an. Seine Solo-Alben sind stets kleine Meisterwerke, die ohne falschen Bombast daherkommen, gerne auch mal mit einem Piano und Stimme und sonst nix.

Die vierte Solo-Platte weist nun allerdings eine kleine Revolution auf: Alexis Taylor meets Tim Goldsworthy, federführend am Aufbau von Mo Wax und DFA Recording beteiligt, Mitglied der Trip-Hopper UNKLE und vor allem einer der interessantesten Produzenten in der Szene. “Beautiful thing” ist genau das, ein schönes Stück Pop, ein vibrierendes Stück Disco, eine wunderbare Platte für alle Clubs, für unterwegs. Aufdrehen und nach 2 Sekunden wippt das Beinchen im Takt, wetten?

Live kommt Mr. Taylor leider nicht so schnell zu uns, im September ist er in Berlin und Amsterdam, näher geht nicht.

Jon Hopkins: “Singularity”, Domino Records

Hopkins, ebenfalls Brite, hat sich vor allem als DJ und Produzent einen exzellenten Namen gemacht. Er arbeitete unter anderem mit Brian Eno und mit Coldplay zusammen, hat Songs von David Lynch (!) und Moderat remixet und zeichnet für den Soundtrack zu “Monsters” als Producer verantwortlich. Die Liebe zur Musik von Depeche Mode und den Pet Shop Boys liegt auf der Hand, wenn man in den 1980ern und 90ern in UK groß wird. Als er dann seinen ersten Amiga mit 14 bekam, war klar, wohin die Reise gehen würde. “Sigularity” ist sein fünftes Solo-Werk und was für eines. Zwischen urbaner Hektik und der Natur geht Hopkins mit der Hörschaft auf Reise durch Sound-Gebirge und Synthie-Landschaften. Er schafft reduzierte Stimmungen, ehe die nächsten Turbulenzen anrollen. Manchmal braucht es nur ein einzelnes “Boooom!” und schon ist man mitten im Song. Vom düsteren “Luminous Beings” zum glockenhellen “Recovery” sind es nur wenige Augenblicke. Eine Platte wie ein Hörspiel ohne Begleittext. Eine der mitreißendsten Nummern gibt es hier im Rausch der Bilder…


Muhnicks: “Sunnawind”, Dr. Music Records

BREAK! Weg aus England. Umschalten in den alpinen Modus. Oder auch  nicht. Muhnicks mischen Bayern mit Calexico, Folk mit Ry Cooder und vor allem: Sie gehen einfach ihren Weg. Sie sind ja auch stark genug besetzt, um sich nicht fürchten zu müssen vor Vorurteilen und falschen Schubladen.

Muhnicks das sind: Irmi Haager (voc), Julia Schröter (voc), Veronika Zunhammer (voc), Ossi Schaller (git), Florian Sprenger (git), Lukas Häfner (git), Jan Bartikowski (git), Otto Schellinger (bass, git), Julia Hornung (e-bass), Sebastian Wolfgruber (drums), Marc Turiaux (drums), Manfred Mildenberger (drums), Chris Gall (piano, FX), Oliver Hahn (strings-programming), Yogi Lang (e-piano, percussion-programming), Linda Nolte (acc) und Michael Flossmann (tp, git, acc).

Jede Musikerin, jeder Musiker bringt etwas Spezielles in den Sound der Trupp ein. Das Resultat ist bodenständig und weltoffen, vertraut und völlig neuartig. Die Steirische Harmonika kommt ebenso zur Geltung wie die Trompete und die Slide-Guitar. Und darüber liegen Stimmen, die Athmosphären erzeugen, wie man sie aus den Bergen kennt, von Stränden und von endlosen Landstraßen. Man sollte der Platte ein bisschen Zeit geben, um sich zu entwickeln, sie erschließt sich in ihrer Tiefe nicht im allerersten Augenblick. Wir jedenfalls sind froh, bis zum Ende zugehört zu haben.

Ben Granfelt: “My Soul to you”, A1 Records. VÖ: 15. 6. 2018

Einer geht noch. Zwar erscheint die Platte des finnischen Gitarren-Heroen erst Mitte Juni, aber wir konnten schon jetzt ausführlich reinhören. Der Mann macht seit mehr als 30 Jahren Musik, hatte seine Finger bei den Gringos Locos ebenso im Spiel wie bei den legendären Leningrad Cowboys.

Mittlerweile stehen wir bei Solo-Platte Nr. 16, das soll ihm erst mal jemand nachmachen. Irgendwo zwischen Blues und Rock liegt seine Seele, unter den Songs befindet sich auch ein Cover von P. J. Harvey, das wir in dieser Form nicht erwartet hätten. Wie es sich für einen Herrn aus Helsinki gehört, ergeht sich Granfelt nicht in sinnloser Fröhlichkeit, sondern hat eher schon einen leichten Grant aufgezogen, der erstmal runtergespült werden muss.

Fans von Alexis Taylor oder Jon Hopkins werden mit dieser Platte genau nichts anfangen können. Blues-Anhänger hingegen sehr viel. Die Scheibe ist der perfekte Soundtrack für einen leicht verschlumpften Beislbesuch. Während draußen Gewitter aufziehen, bestellt man sich noch einen Drink und denkt darüber nach, warum die Liebe und das Leben so oft so kompliziert sind.

“Love” und “suffering”, das geht bei Ben Granfelt sehr gut in einem Satz zusammen.

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