Giuliano Musio: Da ist ein Riss. edition taberna kritika 2025
Seltsame Kategorie, werden Sie sich jetzt vielleicht denken. Begleittext, was soll das sein? Der hier schon öfter lobend erwähnte Schweizer Autor Musio hat den Versuch gewagt, zu Beethovens Egmont ein Büchlein zu verfassen. Die Idee stammt von Beat Sieber, die zauberhaften Illustrationen von Manuel Kämpfer.
Was kann nun dieses Büchlein mit gerade einmal 110 Seiten aus dem historischen Stoff holen? Viel – und daran zeigt sich die Meisterschaft des Giuliano Musio. Der Riss, nachdem er seinen Text benennt, verläuft zwischen den Niederländern und der spanischen Herrschaft. Er verläuft mitten durch Familien, trennt Freunde und Kollegen und vor allem: Er bringt den niederländischen Grafen Egmont in schwerste Bedrängnis. Dabei will er doch nur den Frieden wiederherstellen und für gerechte Verhältnisse sorgen. Seit Jahrhunderten streiten kluge Köpfe über die Frage, ob Egmont ein naiver Träumer ist oder ein engagierter und selbstloser Diplomat, dem Unrecht widerfährt.
Goethe sah den Helden als Idealisten. Grillparzer stellt ihn als tragischen Fall vor. Musio löst sich von all diesen Bildern und zeigt Egmont als Familienvater, dem einfach kein Ausweg mehr bleibt. Er ahnt wohl, was mit ihm geschehen wird, doch letztlich kommt es unweigerlich zum grausamen Finale. Egmont wird in den Kerker geworfen und am Ende hingerichtet. Zurück bleibt seine Frau Sabina, die ihren Rock in sein Blut taucht. Die von Musio angesprochene Aussicht auf literarische Unsterblichkeit wird weder Egmont noch seiner traurigen Witwe geholfen haben.
Der Riss wird zu einer Metapher, die sich schauderhaft gut auf heutige Zeiten übertragen lässt. Wann muss man buckeln, sich verstellen, sich mit den Mächtigen gut stellen? Und wann ist es Zeit, Farbe zu bekennen, sein Leben zu riskieren? Egmonts Tod scheint sinnlos, doch als Abschreckungsmaßnahme ist er zumindest geeignet. Die brutalen und stupiden Herrscher der Gegenwart, ob in Russland oder in so genannten demokratischen Ländern, sie haben derzeit Oberwasser. Doch der Riss, den ihre Politik verursacht, muss nicht von Dauer sein. Wenn es nur genug mutige Menschen wie Egmont gibt, die in den entscheidenden Phasen vielleicht doch etwas weniger naiv vorgehen. Nawalny, schau oba!