Johanna Pirker: THE GAME IS ON. Wie Gaming unsere Welt revolutioniert. 2025. ecoWing.
„We met in Animal Crossing during covid. We recently got married!“ Diese zwei Sätze und das Bild einer Hochzeitstorte rührten die Reddit-Community zu Tränen. Die Gamerin hazy-morning und ihr jetziger Mann lernten sich in Lockdown-Zeiten auf einer virtuellen Insel im Cosy-Game-Renner Animal Crossing kennen und lieben. Im Herbst 2025 folgte die Hochzeit. Eine Netzanekdote, die beweist, dass Videospiele die – sollten sie jemals von dort aus ihren Siegeszug angetreten haben – versifften Junggesellenkeller längst verlassen haben und im Herzen – oder in diesem Fall besser: in den Herzen – der Gesellschaft angekommen sind. Mehr (und vor allem wissenschaftlichere) Beweise für die Relevanz von Videospielen liefert Johanna Pirker in ihrem Buch THE GAME IS ON. Auf rund 220 Seiten legt die Informatikprofessorin eine Apotheose des Videospiels vor, die das Potenzial hat, nicht nur eingefleischte Gamer:innen abzuholen. Besonders schön: Pirker schafft es ganz ohne Schiller-Zitat (die Sache mit dem Ganzsein und dem Spielen), unterhaltsam und wissenschaftlich fundiert über die Kulturtechnik Spiel zu schreiben.
Kleines Videospiel-Einmaleins
Zu Beginn stellt Pirker klar: „Dieses Buch ist keine akademische Abhandlung – und will es auch nicht sein.“ Vielmehr möchte sie in authentischem Plauderton Vorurteile abbauen und Mut machen, Videospiele als etwas Soziales und Chance für Lernen und Weiterentwicklung zu begreifen. Deshalb richtet sich Pirker nicht (nur) an Videospiel-Veteran:innen, die ohnehin von der Sinnhaftigkeit des gepflegten Tastenhämmerns überzeugt sind, sondern bietet einen niederschwelligen Einstieg ins Thema. Dennoch dürften auch Gaming-Fans beim Lesen den ein oder anderen Aha-Moment erleben. So lernen wir unter anderem, dass …
- rund 3,4 Milliarden Menschen Videospiele spielen,
- die Hälfte davon weiblich ist,
- die Gaming-Industrie mehr einnimmt als Film-, Buch und Musikbranche zusammen,
- Videospiele positive Auswirkungen auf Sozialleben und Psyche haben,
- man sogar mit PowerPoint starten könnte, um Spiele zu entwickeln, und
- die Autorin ihre (wissenschaftlichen) Projekte ebenfalls wie Games anlegt.
Vom persischen Prinzen zur Professur
THE GAME IS ON liest sich an vielen Stellen wie eine Mini-Autobiographie: Pirker gliedert das Buch in die Kapitel PLAY, CREATE, RETHINK, REFLECT und verknüpft die Inhalte mit ihren Rollen als Gamerin, Spiele-Entwicklerin und Forscherin. Ihr erster Kontakt mit der Games-Welt (Prince of Persia) ist ebenso Thema wie ihre Zeit am MIT, erste Gehversuche im Game-Design oder ihre aktuelle Forschung. Immer wieder äußert die Autorin Wünsche und Forderungen, die das Image von Games verbessern könnten: So wünscht sich Pirker Lernspiele von interdisziplinären Teams oder Games-Besprechungen in den Kulturteilen traditioneller Medien. Vor dem Hintergrund, dass Arthur Morgan (Red Dead Redemption II) oder Link (The Legend of Zelda) einigen – 3,4 Milliarden Spielende weltweit! – geläufiger sein dürften als Hans Castorp oder Faust, lässt sich dieser Idee einiges abgewinnen. Die Tatsache, dass Pirker an mehreren Hochschulen zu Videospielen lehrt und forscht, verleiht ihren Argumenten jedenfalls Gewicht. Hier liest man nicht nur die Überzeugungen eines Fans, sondern vor allem die einer renommierten Wissenschaftlerin. Ein cleverer Schach- bzw. Spielzug: Pirker hat die für die Recherche geführten Interviews direkt ins Buch integriert, was authentische Einblicke in die Gaming-Branche ermöglicht. Die Interviews sind als Videos auf der begleitenden Website www.gameonbook.com abrufbar. Hier sammelt Pirker zusätzliche Referenzen, Erklärvideos, Spiele- und Buchempfehlungen.
Haupt-Quest: Good Vibes verbreiten
Die Schattenseite von Videospielen aufzuzeigen, verkommt im Buch zur Side-Quest: Erst auf den letzten 15 Seiten werden Sexismus, Sucht oder toxische Community-Strukturen wirklich gestreift. Bei diesen vorurteilsbehafteten Themen verweist Pirker auf die Arbeit von Kolleg:innen aus der Wissenschaft. THE GAME IS ON bleibt bis zur letzten Seite eine Huldigung der Videospielkultur (die laut Pirker übrigens auch als solche, als „Kultur“, begriffen werden sollte). Als Leser:in tut man sich nach der Lektüre schwer, nicht zu denken: „Videospiele sind halt einfach geil.“ Der „Professorin, die doch einfach versucht, die Welt durch Spiele zu erklären“, gelingt genau das ziemlich gut.
Folgenden Gruppen sei THE GAME IS ON besonders empfohlen:
- Eingefleischte Gamer:innen erhalten Hintergrundwissen über ihr liebstes Hobby und gute Argumente, durchzockte Nächte vor Partner:innen oder Eltern zu rechtfertigen. Außerdem schlagen Gamer:innen-Herzen höher, wenn Seite für Seite bekannte Spieletitel genannt werden, an die man selbst schon etliche Stunden verloren hat.
- Vorsichtig Interessierte, die noch nicht so genau wissen, was sie von Videospielen halten sollen, werden ebenfalls fündig. Das Buch liefert wissenschaftlich fundierte Argumente für die Integration von Videospielen in den Alltag. Diejenigen, die Gegenargumente suchen, finden zumindest Literaturtipps.
- Kindern, die in Sachen Gaming noch Überzeugungsarbeit leisten müssen, sei THE GAME IS ON als Weihnachtsgeschenk für Eltern ans Herz gelegt: Nach der Lektüre steigt die Wahrscheinlichkeit, dass im nächsten Jahr die neue Konsole unterm Baum liegt, drastisch.
Rezension & Foto von Patrick Schlauer